Sotschi und der russische Traum vom Süden

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Zur Jahrhundertwende als Kurbad für den Petersburger Hofstaat gegründet, wurde Sotschi im Kommunismus zum Urlaubsort der werktätigen Massen. Heute ist die Stadt verbaut, das Meer verschmutzt und das Service lausig.

Die Russen sind in der glücklichen Lage, das größte Land der Welt zu bewohnen. Es reicht von den Grenzen Europas bis an das pazifische Meer. Das Land der Russen ist so groß, dass es mehrere Zeitzonen überspringt, es wölbt sich zu Bergen und dehnt sich zu weiten Ebenen, in seinem Boden liegen unsagbar viele Reichtümer verborgen. Das Land verfügt über reines Wasser und klare Luft. Doch an einem Element mangelt es den Russen, und das lässt sie manchmal ein bisschen unglücklich werden: Es mangelt ihnen am Feuer der Sonne. Russlands viele Bewohner haben viel zu wenig Licht und Wärme.

Dieser permanente Entzug von Lebenskraft müsste die Russen eigentlich zur Verzweiflung treiben, gäbe es da nicht diesen einen Ort an der äußersten Grenze des großen Reichs. Es ist ein Ort im Süden. Spricht man seinen Namen aus, ist es, als würde ein Licht aufblitzen. Wenn die Russen im Sommer ihre Siebensachen packen und gen Süden fahren, dann müssen diese Tage für die ganzjährig erlittene Dunkelheit und Kälte entschädigen. Der Ort, an dem die Sonne immer scheint, heißt Sotschi. Sotschi ist der russische Traum vom Süden. Sotschi ist Sehnsucht. Die Tage in Sotschi sind immer zu kurz.


Sonderzug nach Sotschi.
Im Sommer führen alle Wege aus dem Riesenreich nach Sotschi. Die einfachen Urlauber kommen in Sonderzügen mit der Eisenbahn, ihr Hab und Gut befördern sie in Plastiktaschen und in mit Bast verschnürten Paketen. Die Reise dauert oft Tage. Die Begüterten steigen von den Metallleitern der Flugzeuge herab. Ob arm oder reich, sie alle sind Sonnenanbeter. Sie kommen aus dem hohen Norden, aus dem Ural oder aus Sibirien. Aus Voronesch, Samara, Archangelsk, Chabarowsk, Magadan, Tschita.

Das Verhältnis der Russen zur Sonne ist kein gesundes. Es ist nicht mitteleuropäisch-ausgewogen. Wie könnte es das auch sein? Es ist eine wahnwitzige, brandgefährliche, bedingungslose Liebe. Eine Obsession. Die größten Feinde dieser Liebe sind Sonnencreme und Schatten.

Um Sotschi zu verstehen, muss man an den Strand gehen. Es gibt keinen hässlicheren Strand als den von Sotschi. Es ist ein schmaler Streifen Land, der von übelriechenden Imbissbuden umzingelt ist. Dahinter rattert die Eisenbahn. Auf dem Strand liegen große, harte, spitze Kieselsteine. Andernorts würden Urlauber nicht einmal ihre Hunde an so einem Strand ausführen. Doch in Sotschi ist dieses Stückchen Land hart umkämpft. Alle wollen hier einen Liegeplatz bekommen, und weil der Streifen so schmal ist, liegen die Urlauber wie Sardinen nebeneinander. Eine große menschliche Masse. Weiße, übergewichtige Körper, die allmählich krebsrot anlaufen. Die rote Farbe ist das größte Glück der Russen, Beweis, die Zuneigung des Feuerballs genossen zu haben. Mehr will man nicht. Ja, irgendwann vielleicht mal was essen, irgendwann einmal schlafen gehen. Und dann wieder an den Strand.

Eine besonders beliebte Methode ist das Bräunen im Stehen. Die Idee ist so irre, sie muss auf einen sowjetischen Forscher zurückgehen. Am Strand kann man Halbnackte sehen, die auf den harten Steinen stehen und in die Sonne starren. Vielleicht sind die Urlauber deshalb blind für alles, was sie sonst so umgibt.

Meer, Berge, Palmen. Sotschi muss einmal schön gewesen sein. Davon zeugen alte Ansichtskarten. Kilometerlange Strände, Gebirgsbäche, deren eisiges, milchiges Wasser sich mit den Meeresfluten vermengt, exotische Blumen, immergrüner Wald, tropischer Regen, der so plötzlich aufhört, wie er gekommen ist, weite Sicht, klare Luft.

Die Luft und die Dreifaltigkeit aus Meer, Bergen und Palmen war es, die 1898 einen gewissen „Kongress der Klimatologen“ zur Gründung des Kurorts Sotschi veranlasste. Man baute Sanatorien, Pensionate, Datschen, Hotels, in denen die feine Petersburger Gesellschaft Frischluft schnappen und Sonne tanken sollte. Die Sommerfrische am Kaukasus, der nur drei Jahrzehnte zuvor endgültig erobert worden war (s. Artikel rechts), war en vogue. Das erste Hotel von Sotschi, fertiggestellt im Jahr 1909, gab die Losung vor: „Kaukasische Riviera“. Russlands Riviera: Sotschi war ein Stück Ausland im Inland.

Nach der Machtergreifung der Kommunisten sollten auch die werktätigen Massen einen Platz an der Sonne bekommen. „Otdych“ – Erholung – wurde zum Arbeiterrecht. Große Sowjetbetriebe errichteten Sanatorien mit Namen wie Metallurg oder Neftjanik, und oberhalb, versteckt in den Hügeln, baute sich die Nomenklatura luxuriöse Datschen. Stalin verbrachte hier gern seine Tage.

Sotschis Schönheit ist sein Fluch: Nach der Wende wurden die Hotels immer mehr, immer höher. Aus dem Kurort ist eine Stadt geworden, deren Markenzeichen der Stau ist. Wer heute nach Sotschi kommt, sieht keine Palmen, sondern Baukräne. Wer ein günstiges Zimmer sucht, bekommt ein staubiges Verlies. Die Arbeiter nebenan hämmern bis nach Mitternacht. Nach einem Regensturz sind die Straßen überflutet, die Gehwege verschlammt. Die Taxis sind überteuert, die Kellnerinnen grummelig, das Service lausig, das Essen – ach, lassen wir das. Sotschi ist eben eine Stadt der Superlative. Es hat stets megalomanische Ideen angezogen, und so ist es nicht verwunderlich, dass Herr Putin seine Winterspiele ausgerechnet hier austragen wollte. Nicht auszudenken, was noch alles kommen wird!


Nächstes Jahr wieder! Sotschis Urlaubern aber ist das alles mehr oder weniger egal. Luft, Wasser, Erde: Diese Elemente sind für sie nicht so wichtig.

Freilich hat sich auch bei den Russen in den vergangenen Jahren herumgesprochen, dass man anderswo schöner, angenehmer und günstiger Urlaub machen kann. In der Türkei, in Ägypten, in Bulgarien – am gegenüberliegenden Schwarzmeerstrand. Doch nur in Sotschi wärmt die Sonne so warm, macht sie so glücklich. Darum schwören die Touristen, wenn sie mit den Plastiktaschen wieder in die Züge steigen und die tagelange Reise in den Norden antreten: Auf Wiedersehen! Nächsten Sommer in Sotschi!

Russlands Süden in der Literatur

Europa Erlesen Sotschi. Literarischer Reiseführer in den Nordkaukasus, herausgegeben von Andrea Zink. Wieser Verlag, 14,95 Euro.

Der vergessene Völkermord.Journalist Manfred Quiring beleuchtet das Schicksal der Tscherkessen gestern und heute. Ch. Links Verlag, 17,40 Euro.

Die Reise nach Arzrum. Aleksandr Puschkin berichtet vom russischen Feldzug 1829. Friedenauer Presse, 16,50 Euro.

Ein Held unserer Zeit. Michail Lermontows scharfsichtiger Roman über Unterwerfung und Unglück am Kaukasus. Insel Verlag, 8,30 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2014)

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