Tanger: Die Begehrte, Bewunderte, Geliebte

(c) AP (Jalil Bounhar)
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Internationale Investoren und Großprojekte lassen Tanger in altem Glanz erstrahlen. Doch die Seele der weißen Stadt bleibt seit Jahrtausenden ihr Geheimnis.

Hochgekrempelte Ärmel bestimmen das Stadtbild. „In weniger als drei Jahren wird eine völlig neue Stadt geboren sein“, verkündete Regional-Gouverneur Mohamed Hassad Anfang 2007. Seitdem wird in Tanger gebohrt, gegraben und gehämmert. Eine 90 Millionen Euro teure Erneuerungsoffensive soll die Stadt für einen Touristen-Boom zurechtschminken. Auch das wichtigste Projekt Marokkos ist hier angesiedelt: Für mehr als vier Millarden Euro entsteht einer der größten Häfen im Mittelmeer, der „Tanger Méditerranée“. Eine Idee des Königs höchstpersönlich.

1999 hatte Mohamed VI., vom Volk kurz „M6“ genannt, den Thron seines Vaters bestiegen und damit begonnen, das Königreich von Grund auf zu modernisieren. Für seinen „Plan Azur“, der ab 2010 zehn Millionen Touristen jährlich in Marokko vorsieht, hat der Monarch Tanger eine der Hauptrollen zugedacht.

Auf dieses Comeback hatte die in die Jahre gekommene Diva lange gewartet. In ihrer glorreichen Zeit als internationale Zone war Tanger Marokkos Star – und Lebens-Mittelpunkt für Außenseiter aus aller Welt: Spione aus dem Zweiten Weltkrieg, Kriminelle, denen daheim Gefängnis drohte, tummelten sich hier ebenso wie verfolgte Juden und Franco-Gegner, Beat-Poeten und Zivilisationsmüde aus Europa und den USA.

Zwischen 1923 und 1956, als Tanger unter der Verwaltung von acht Staaten stand, wuchs aus einem Lebensexperiment ein Mythos. Die Liste bekannter Autoren, Maler und Musiker, die Tangers liberalem Charme erlagen, ist lang: Tennessee Williams, Truman Capote, Francis Bacon, Samuel Beckett, Jean Genet, Roland Barthes – und vor allem Tanger-Ikone Paul Bowles.

Nach einem halben Jahrhundert sind die (Sehn)Süchtigen wieder da. Einziger Unterschied zu damals: Statt weiter Hosen und T-Shirts tragen die Glücksritter heute dunkle Maßanzüge, anstelle der Bleistifte, die Gedichte schrieben, kalkulieren heute Laptops Kosten und Nutzen der Großprojekte.

„Was für ein merkwürdiger Ort“

Und davon gibt es beinahe täglich neue. Die Corniche, Tangers Strandpromenade, ist kaum wiederzuerkennen: Nachdem dort alle illegalen Gebäude abgerissen wurden, die den Blick auf die See und Spanien verstellten, entsteht hier Hotel um Hotel. Seit dem fünf Millionen Euro schweren Facelifting des fünf Kilometer langen Boulevard Mohamed VI säumen Edelrestaurants, ein Spielcasino, Discos und Beachclubs im Marbellastyle die neue Prachtmeile.

„Was für ein merkwürdiger Ort“, befand der amerikanische Schriftsteller William S. Burroughs in der goldenen Zeit Tangers. Das Geheimnis der Stadt an der Traumbucht haben viele vergeblich zu ergründen versucht. „Die Besonderheit von Tanger erschließt sich nicht sofort“, sagt Florian Vetsch, Tanger-Experte und Autor des „Tanger Telegramm“. „Sie zu entdecken braucht Zeit. Je mehr man über sie weiß, desto unergründlicher wird ihr Geheimnis.“

Alles gewinnen, alles verlieren

Der tunesische Schriftsteller Hassouna Mosbahi schreibt: „Es gibt nicht nur ein Tanger. Tanger ist jeden Augenblick anders. Es gibt das Tanger der Reichen, der rastlosen Glücksritter der Begierden, und da ist das Tanger der Armen und der Verdammten. Es ist wandelbar wie eine Schauspielerin, die mehrere Rollen in der gleichen Szene spielt.“

Heute wie damals gleicht die weiße Stadt einem Casino, wo man viel gewinnen und alles verlieren kann. Investoren aus Europa, den USA und dem Mittleren Osten reiben sich die Hände, Ausländer wie Yves Saint-Laurent und Felipe Gonzalez liefern sich einen Wettlauf um die schönsten Zweitwohnsitze und treiben die Immobilienpreise in die Höhe. Tanger bleibt aber auch die letzte Station auf dem Weg nach Europa. Tausende von Flüchtlingen, die den halben afrikanischen Kontinent durchquert haben, spielen „Alles oder Nichts“.

Misslingt die Flucht, bleibt nur das Warten auf den nächsten Versuch, bis das Geld beisammen ist. 3000 Euro verlangen die Schlepper für die Überfahrt. 8000 Euro, heißt es, kostet ein korrupter Beamter, der seinen Stempel auf ein legales Visum setzt. Nicht ohne Grund gilt Tanger vielen als die frustrierteste Stadt Marokkos.

Dennoch, seine Chance hat hier noch jeder bekommen. Araber, Perser, Juden, Franzosen, Spanier, Amerikaner haben sie hier gesucht – und im Stadtbild über die Jahre eine irrwitzige Mixtur der Stile hinterlassen: französische, italienische und portugiesische Kolonialbauten vereinigen sich mit Synagogen, eine Stierkampfarena bezeugt die spanische Einwanderung, die Kirchen läuten im Gleichklang zu den Rufen des Muezzin. Die Grenzen zwischen Europa und Afrika verschwimmen in der „Stadt der Fremden“.

Viele Generationen hat das tägliche Verwirrspiel auf den Straßen Tangers betört und sie in diesen zeitlosen Schwebezustand versetzt. Jeden Tag spult die Stadt ihre Evolution der letzten 500 Jahre im Zeitraffer ab. Biblische Gestalten, Bärtige in Djellabas mit ihren vermummten Ehefrauen, wandern vorbei an Halbstarken in gefälschten Real Madrid-Trikots und an Girlies im Mini.

Der Grand Socco im Herzen der Medina ist Endstation einer Zeitreise, die dem Neuling die Orientierung raubt und gleichzeitig seine Sinne schärft. Die Sinnlichkeit dieses Märchenorts verführte auch Truman Capote: „Von den Bergen heruntergestiegene Berber mit Ziegenfellen und Körben hocken im Kreis unter den Bäumen und lauschen den Märchenerzählern, Flötenspielern und Zauberern; übervolle Stände brechen beinahe unter der Fülle von Blumen und Früchten; in der Luft hängen Haschischwolken und der Minzgeruch arabischen Tees; feurige Gewürze dörren in der Sonne.“

Die marokkanische Mittelschicht sitzt im Café de Paris am Place de la France. Um sie herum tobt die Verkehrshölle, die Herrschaften mit Anzug und Krawatte rühren stoisch in ihrem Minztee und lesen in der Zeitung die neuesten Erfolgsmeldungen: Tanger ist auf dem Weg zu einem der wichtigsten Wirtschaftsstandorte Nordafrikas. Und: Für 2012 hat man sich um die Weltausstellung beworben.

Wenn schließlich die Dunkelheit die sieben Hügel der Stadt verhüllt, die Kräne und Bagger stillstehen, ist es, als ob die Stimmen ihrer alten Verehrer in der Ferne zu flüstern beginnen. „Die Stadt schaltet magische kleine Lichter an“, wispert etwa Jack Kerouac, „der Hügel der Kasbah summt, ich möchte draußen sein in diesen engen Medina-Gassen.“ Inzwischen haben Fortschritt und Wirtschaftswunder Tanger wieder zu seinem ewigen Ziel geführt: Endlich fühlt sich die rätselhafte Diva wieder begehrt, bewundert und geliebt.

IN DEN ARMEN DER DIVA

Anreise: entweder mit Air France nach Paris und weiter mit Air Maroc via Casablanca ab 800€. Oder günstiger und weit romantischer, weil per langsamer Annäherung übers Meer: Flug Wien–Almeria (tour-retour bei LTURfly mit Iberia dzt. ca. 400€), per Bus/Bahn nach Algeciras und weiter mit der Fähre nach Tanger (ab 35€ p. P. oneway).

Auskünfte: Fremdenverkehrsamt Marokko, 1010 Wien, Kärntner Ring 17/2/23, T 01/512 53 26,
www.tourismus-in-marokko.de
www.marokko.net

Schlafen & sehnsüchteln: Hotel Villa Josephine, Fünf-Sterne-Traumhaus im Kolonialstil mit Blick über der Bucht von Tanger, alle Romantikschikanen. DZ 220–711€. T00212/39/33 45 35 www.villajosephine-tanger.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2008)

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