Puszta-Freuden: Die kleinkumanische Zeitverschiebung

Ungarns Kiskunság, das Kleinkumanenland, pfeift auf Lifestyle und Mainstream. Danke schön!

Wir befinden uns im Jahr 2008 nach Christus. Ganz Europa ist noch auf Wellnessurlaub. Ganz Europa? Nein! Ein von unbeugsamen Magyaren besiedelter Landstrich zwischen Donau und Theiß hört nicht auf, dem Zeitgeist Widerstand zu leisten. Während die Touristenwellen über Plattensee oder Debrecen zusammenschlagen, sitzt man im Kiskunság-Nationalpark unbehelligt auf dem Trockenen.

Die invasionserprobten Bewohner von Bugac, Kecskemét und Kiskunfélegyháza haben den Mainstreamtourismus erfolgreich in die Schranken gewiesen. Dass sie die Nase voll haben von kulturellen Annäherungen kann man verstehen: Hunnen, Awaren, Mongolen, Kumanen, Habsburger und Sowjets haben versucht, die ohnedies platteste Landschaft Europas noch ein wenig platterzuwalzen. Irgendwann fiel ihnen dann die Unmöglichkeit ihres Unterfangens auf und sie suchten anderswo das Weite. Nicht so die Teutonen. Die kamen, kauften, verpassten den traditionell strohgedeckten Tanyas Klinkersteinfassaden und erweiterten den Wortschatz ihrer bodenständigen Vasallen um Begriffe wie Pünktlichkeit, Vierradantrieb und Pommes mit Majo.

Dem intellektuellen Zugewinn und der Parzellierungswut hatte die ansässige Bauernschaft wenig entgegenzusetzen. Die Landflucht war ihnen mangels finanzieller Mittel verwehrt und die blühende, weitläufige Steppenlandschaft – ein UNESCO-Biosphärenreservat – bot nur wenig Rückzugsmöglichkeiten. Was blieb, war die Möglichkeit, sich hinter sprachlichen Barrieren zu verschanzen, die innere Emigration anzutreten und passiven Widerstand zu leisten.

Zackelschafe kreuzen den Weg

Dennoch lohnt der weite Weg nach Kleinkumanien. In der unberührten, botanisch gesehen einzigartigen, Natur treffen Pferdesportler, Birdwatcher, Frühaufsteher und Orientierungsläufer auf paradiesische Zustände. Ein Labyrinth aus weichen, sandigen Wegen durchzieht jahrhundertealte Wacholderhaine, endlos scheinende Sandfedergraswiesen und strahlend blaue Kornblumenfelder. Unvermutet kreuzen Hasen, Zackelschafe, Steppenrinder, Noniusherden und Großtrappen den Weg. Das geborene Reitervolk der Magyaren hält sich nach wie vor tapfer im Sattel. Immun gegen die Auswirkungen von Schwerkraft und Alkohol stürmen sie in akrobatischen Verrenkungen dahin. Zu Fall kommt dabei keiner, denn in gehobener Position erwachen sie aus ihrer historisch bedingten Lethargie. Am Steuer eines Fahrzeugs oder auf dem Kutschbock eines Fuhrwerks brechen sich Lebenslust, Temperament und Risikofreude ungebremst ihre Bahn.

Einzigartig wie Flora und Fauna sind eben auch die Gepflogenheiten in der Tiefebene. Bereits der Wunsch nach einer warmen Mahlzeit stürzt Ortsunkundige in Orientierungslosigkeit. Auf die Regel, wo eine Kirche, da ein Wirtshaus, ist ebenso wenig Verlass wie auf ikonografische Hilfestellung oder sprachlich verständliche Wegbeschreibungen. Wo, was und wann gegessen wird, verdrängt die Frage nach dem weiteren Sinn des Lebens.

Das Glück einer Krautroulade

Wer aber über genügend Benzinreserven verfügt, der kann hinter Sanddünen oder mitten im tiefsten Akazienhain auf eine rustikale Csárda stoßen. Diese typischen Einödhöfe werden ihrem Namen mehr als gerecht. Dazu gibt's Zigeunermusik, authentische Blaudruckstoffe und eine dreisprachige Speisekarte: Hausplatte mit Bratkartoffeln, Blaukraut, Schweinebraten, Fischfilet und Reis.

An- und bodenständiger ist das Angebot in den „Etterem“ und „Vendeglö“, Kategorie Wirtshaus mit kleiner Auswahl, großen Tellern und trendigem Retroflair. Der gastronomische Geheimtipp schlechthin aber verbirgt sich entlang der Bundesstraßen. Verdeckt von Sattelschleppern, Eselskarren und Mähmaschinen weist nichts darauf hin, dass hinter den bröckelnden Fassaden rekordverdächtige Portionen an Lammpörkolt oder Krautrouladen über den Tresen wandern. Danach bewahrt ein hochprozentiges Gläschen Unicum oder Barack Pálinka vor akuter Verdauungslethargie.

Auch die kleinkumanische Zeitverschiebung stellt ein einzigartiges Charakteristikum dieser Gegend dar. Während unsereins gerade ans Abendessen denkt, befinden sich die Einheimischen bereits in der Tiefschlafphase. Aus klimatologisch schwer nachvollziehbaren Gründen beginnt der Tag in der Puszta bereits mitten in der Nacht. Hausfrauen, die um sechs Uhr morgens mit ihrem Einkauf durch die Landschaft stapfen, sind hier keine Seltenheit. Touristen, die um sieben Uhr abends mit hungrigen Augen nach einer noch geöffneten Gaststätte Ausschau halten, ebenfalls nicht.

Wer bereits über Nahrungsmittelreserven verfügt, dem steht in Bugac oder Kiskunfélegyháza noch so manch kurioser Zeitvertreib zur Verfügung. Eine Billardpartie im Kulturhaus, eine Fahrt mit der Schmalspurbahn durchs Niemandsland, ein Besuch im Gefängnismuseum, der sprachliche Zweikampf mit dem Bankomat oder ein appetitanregender Blick in die größte Gänsemast Europas. Dort könnte er dem Rätsel der verschwundenen Gans nachgehen: In den meisten Gaststätten ziert Gänseleber die Speisekarte. Doch den erklecklichen Rest vom Federvieh sieht man fast nie.

DAS GLÜCK DER STEPPENERDE

Kiskunsag-Nationalpark: im Zwischenstromland von Donau und Theiß; sehr artenreiche Kulturlandschaft und ursprüngliche Vegetation. Dünen und sandige Böden, ideal für Reiter.
http://knp.nemzetipark.gov.hu-

Kiskunság-Nationalpark mit Hirtenmuseum: 0036/76/501 596, 501 594. Touren mit der Pferdekutsche in den weitläufigen Nationalpark organisieren Bugac Tours Kft. 6114 Bugac, Szabadság tér 4/A, 362 226.
Direkt im Nationalpark befindet sich die Karikas Csarda im traditionellen Stil der Einödhöfe. Mittelprächtige Küche, dafür aber oft echte Zigeunermusik.

Kecskemét: berühmt wegen der wundervollen Jugendstilbauten und dem Barack Pálinka, einem Aprikosenschnaps. Information: Kossuth tér 1, Tel.: 481 065; kecskemet@tourinform.hu
Hier beginnt die Schmalspurbahn Kecskemét-Bugac-Kiskunmajsa.

Kulinarik: Szélmalom csárda, Városföld 167 (gute Küche in alter, renovierter Mühle). Magnus Etterem, Csongrádi utca 2 (ungarische Küche in schönem Kellerlokal). Zwack Unicum AG, Matkói utca 2 (Schnapsdestille mit Gaststätte und Gartenterrasse.
[Foto: Anita Huszti/Fotolia]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2008)

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