Stockbrot rösten am Gletscherbach

Gipfelwächter
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Südtirol. Am Ende der Welt beginnt das Paradies: Dort entdecken gelangweilte Kinder am Fuß der Ortlergruppe die Lust am Gehen.

Gute drei Stunden dauerte die Wanderung bereits. Erst schlängelte sich der Weg gemächlich bergan. Dann führte er beunruhigend nahe am Abgrund entlang, bis einige Höhenmeter zu klettern waren. Dabei boten an den Felsen befestigte Seile Halt. Es folgte ein sehr schmaler Pfad, der unmittelbar am Abhang verlief. Hier kamen drei Urlauber von vorn. Zu steil und steinig sei es hier, meinten sie, deshalb hatten sie kehrtgemacht. „Mit dem Kind müssen Sie umdrehen“, rieten sie und quetschten sich an uns vorbei.

Halb so schlimm, meinte das Kind. Der Bub war den Weg bereits am Vortag gegangen, mit Stephan. Also weiter. Und tatsächlich war der Weg zum Wasserfall trotz einiger banger Momente zwischen Steilhang und Abgrund zu schaffen. Wer zügig hinter diesem Vorhang aus prasselndem Wasser vorbei ging, wurde gar nicht so nass. Bald ging es talwärts, wo der Weg an der Kapelle bei den heiligen drei Brunnen endete. Ein plätschernder Bach, der sich aus drei Quellen speist, bildet hier mehrere Becken. Neben ihm rauscht der Gletscherfluss. In seinem Bett konnte man von Stein zu Stein springen und eiskaltes Wasser trinken.

Die Route ist trotz „einiger exponierter Stellen“ als Familienwanderweg ausgewiesen und beweist, dass in Südtirol andere Maßstäbe gelten als nördlich der Alpen. Auch in den Dolomiten ist das so. Dort wird das 2313 Meter hohe Weißhorn der „Gipfel der Fünfjährigen“ genannt: Weil er so leicht zu besteigen und deshalb der erste Berg ist, den kleine Kinder aus der Umgebung hinauflaufen. Mit Betonung auf laufen, keine Frage. Unser fünfjähriges Flachlandkind hat noch keinen Gipfel bezwungen. Die zweckfreie Fortbewegung zu Fuß war vielmehr so unfassbar langweilig, dass man sich nach spätestens 400 Metern tragen lassen oder wenigstens ordentlich quengeln musste. Nun ist es an der Hand des Vaters die ganze Strecke gegangen und hat der Mutter noch Mut zugesprochen. Was ist denn da passiert?

Stephan Gander, der mit seiner Frau Petra in fünfter Generation das in Trafoi im Nationalpark Stilfserjoch gelegene Hotel Bella Vista führt, hat das Wanderwunder bewirkt. Als Vater von vier kleinen Kindern mit Erfahrung und pädagogischem Geschick gesegnet, kennt er nicht nur Tricks zur Motivation, sondern überzeugt Wanderneulinge vor allem durch seine eigene Begeisterung.

Kinderklubs, nein, danke

Der fünfjährige Wanderneuling, der von Kinderklubs noch nie etwas wissen wollte, lässt sich auch hier nicht für das „Naturdetektiv“-Programm gewinnen, mit dem die beiden hauseigenen Kinderbetreuerinnen Einblick in das Wesen der Bergwelt vermitteln. „Aber die spannenden Sachen mit dem Stephan, die mach ich“, hat er überraschend erklärt: Kinderpunsch am Lagerfeuer abends und die Dämmerungswanderung zu einer kleinen Hütte am Gletscherbach, wo die Kinder mit Stephan den Geräuschen der Nacht lauschen, das macht Spaß.

Bei der Familienwanderung, die Eltern und Kinder zusammen unter Ganders Führung unternehmen, kommt kein Kind auf die Idee, über die Art der Fortbewegung zu jammern. Eine ganze Horde ist unterwegs, sodass man nicht gehen muss, sondern sich kindgemäß bewegt: In der Ebene rennt und am Hang springt oder klettert. Steilere Abschnitte gewinnen an Reiz, wenn Stephan zeigt, wo die Hand hinkommt und an welche Stelle dann der Fuß. Die Eltern erleben erneut, dass die Sprösslinge anderen Leuten besser zuhören und ihren Anregungen sogar folgen. Der Weg muss Abwechslung bieten, um als Ziel zu bestehen. Einige Kinder rennen gleich mehrmals durch den Wasserfall. Auch Tiere sind geeignet, die Aufmerksamkeit zu fesseln. Kommt gerade Rindvieh daher und lässt sich keine Gämse sehen, genügt eine Pflanze wie die Feuerlilie, die Stephan den Kindern zeigt. Ihre auffällige Färbung betrachten sie mit Interesse – wer hätte gedacht, dass hier Orchideen wachsen? Immer lässt sich die Tür ins Reich der Fantasie öffnen.

Stephan führt die Kinder durch den Zwergenwald, in dem kleine Bäume wachsen und womöglich auch kleine Wesen leben. Die Kinder teilen seinen Enthusiasmus. Sogar eine dreijährige Norwegerin hat so an der Hand ihrer Mutter eine Wanderung geschafft, auf der wir anderntags ein Grüppchen Erwachsener umkehren sehen.

Immer fördert die Kulisse das Erlebnis. Zurück im Tal bauen die Kinder Staudämme. Doch das Tollste ist für den Fünfjährigen, abwechselnd aus Bach und Brunnen zu trinken, er schüttet erstaunliche Mengen Wasser in sich hinein. Ein gefragter Experte bei der Stauung von Bächen ist auch Stephans Ganders Schwiegervater Gustav Thöni, einstmals erfolgreichster Skiläufer Italiens, mehrfacher Olympiasieger und Weltcupgewinner. Thöni läuft im Winter mit den Gästen Ski, im Sommer geht er mit den Kindern am Bach spielen.

Das Hotel im 50-Einwohner-Dorf Trafoi ist das Haus seiner Kindheit. 1951, als er hier geboren wurde, war es schon ein Traditionsbetrieb: 1875 war es erbaut worden, an der Schnittstelle zwischen Ötztaler Alpen, Schweiz und der Lombardei wechselten damals die Postkutschen die Pferde.

Sigmund Freud, Stefan Zweig

Die Landschaft weckt nicht nur die Lust am Gehen, ihre Archaik macht sie auch zu einer Kulisse für Kindheitserinnerungen, die durchs ganze Leben tragen. Hinter dem Haus ein Kircherl zwischen Wiesen, auf denen im Sommer Heu gemacht wird. Dahinter erheben sich der 3905 Meter hohe Ortler, die Trafoier Eiswand und der Madatsch. Auf den Gipfeln liegt Schnee, wenn es auf den 1500 Metern Trafois sommerlich warm ist.

„Wir sind hier am Ende der Welt und am Anfang vom Paradies“, sagt Thöni. Es hätte anders kommen können. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es am Ende des Tals ein Grand Hotel, zu dessen Gästen Sigmund Freud und Stefan Zweig zählten, die Familien Krupp und Opel. Im Ersten Weltkrieg brannte es aus und wurde nie wieder aufgebaut. So liegt das Talende heute in tiefem Frieden.

Für die Kinder beginnt das Paradies an der Tür zur Terrasse. Neben dem Garten mit Spielplatz liegt die Wiese mit der Feuerstelle und einem Tipi. Von hier führt ein Pfad zum Bach hinunter. Dort befindet sich die Hütte, an der die Dämmerungswanderung endet. Zäune gibt es nirgends, und wiewohl das Hotel Bella Vista an der Stilfser Jochstraße liegt, beginnt hinter ihm ein Reich ohne Autos, aber voller Abenteuer. Als die Abendsonne die Spitze des Ortlers rosa färbt und es kalt wird, sind die Kinder noch immer unterwegs. Für viele Gästekinder ist dies das Spannendste: draußen spielen, bis es dunkel wird, und dann am Lagerfeuer Stockbrot rösten. Anderntags will das Kind tatsächlich wieder wandern. Stephan muss arbeiten. Aber mit den Eltern geht es nun ja auch.

ZUM EIS, UNTERS EIS

Familienurlaub. Im Wanderhotel Hotel Bella Vista kostet das DZ/HP im Sommer ab 65€ p. P., eine Suite mit getrenntem Kinderschlafzimmer ab 75€ p. P., Bella Vista Hotel, 39029 Trafoi, +39/0473/61 17 16, wanderhotels.com, bella-vista.it.

Nicht versäumen. Messner Mountain Museum Ortles in Sulden, eines der fünf Museen des Über-Bergsteigers. Schwerpunkt in dem auf 1900 Meter liegenden, unterirdisch angelegten Museum: Eis. messner-mountain-museum.it

Die Kosten der Tour trugSüdtirol Information, suedtirol.info

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2014)

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