England: Der Fluch der Spitzen

(c) Die Presse (Christian Cummins)
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Ein Yorkshire Dalesman besucht die Hügel seiner Kindheit und freut sich, wie wenig sich verändert hat.

Ihr wart im The George? Vorhänge aus Spitze in einem Pub in den Yorkshire Dales! Unfassbar! Und wir sollen das glauben?“ Wir hatten uns vor dem Kaminfeuer im traditionsreichen The Falcon Pub in Arncliffe breitgemacht, während die Einheimischen über die neuen Zeiten – gosh, Spitzenvorhänge in einem Pub!! – in Hubberholme jammerten.

The Falcon hingegen hat sich ein halbes Jahrhundert lang nicht verändert. Das dunkelbraune Ale wird immer noch aus einem Keramikkrug ausgeschenkt, die exotischste Speise auf der günstigen Karte ist immer noch Pastete mit Erbsenpüree. Das Pub ist nicht stattlich, aber stolz, und passt perfekt zu den zähen Bewohnern dieser malerischen Gegend mit windumpeitschten Hügeln und Mooren. Robby, der Wirt, toleriert immer noch keine Mützen in seinem Lokal, hat aber immer noch kein Dach auf seinem Plumpsklo unter freiem Himmel.

Raue melodische Stimmen ...

Das offene Feuer erwärmte die Glieder der Einheimischen und zauberte ihnen rosige Backen auf ihre Gesichter. Sie wurden noch rosiger, als sie lange, ironische und kaum glaubhafte Geschichten über ihre exzentrischen Freunde erzählten. Glücklich lauschte ich den vertrauten rauen, aber melodischen Stimmen. Das Ale erwies sich als überaus süffig – vielleicht wegen der wenigen Kohlensäure, vielleicht aber auch, weil der Regen draußen die dunkle Kammer noch gemütlicher machte.

The Falcon ist ein wunderbares Lokal, von allen Pubs der Welt mein Favorit, aber, so sagen die kopfschüttelnden Einheimischen, eine vom Aussterben bedrohte Art. Die Dales seien nicht mehr das, was sie einmal waren! Ich glaube, seit Generationen sagen sie alle das Gleiche.

Seit sieben Jahren war ich nicht mehr da gewesen, wo ich meine Kindheit verbracht hatte. Was hat sich also in den Dales verändert? Es ist die gleiche Landschaft von kargen, lang gezogenen Hügeln aus Kalkstein, nicht hoch, dafür aber umso wilder. Die Hänge sind durch die allgegenwärtigen, mit Moos bewachsenen Trockenmauern abgestuft, so entsteht ein endloses, variierendes Muster von Rechtecken und Vierecken. Oben auf den Hügeln, wo die ehrgeizigen Strahlen der Maisonne noch immer zu schwach sind, um das Wachstum zu beschleunigen, sind die Steppen noch leicht braun. Unten sind sie dunkelgrün.

Dale heißt Tal. Einst haben sich die Wikinger hier niedergelassen. Auch der schottische Tierarzt James Herriot, dessen Abenteuer in „Der Doktor und das liebe Vieh“ im Fernsehen einmal beliebt waren, übersiedelte hierher. Die Dales sind eine fantastische Landschaft, können aber auch hart sein. Sie gehören zu den Pennines, dem Rückgrat Englands, das viel Regen abfängt.

Kristiane, mein Terrier Teasle, und ich waren nach Arncliffe gewandert. Wir starteten in meinem Heimatdorf Kettlewell, das als Drehort für den Film „Calendar Girls“ flüchtige Berühmtheit erfuhr. Vom Atlantik her fegte der Nordostwind über das Hochmoor und peitschte Regen mit Macht horizontal über das Land. Unten im Dorf kuschelten sich die zusammengepferchten Häuser aus Kalkstein wie graue Schafe aneinander. Plötzlich das Wunder, oben im Himmel, für das die Dales berühmt sind: Der Wind teilte die Wolken, die Sonne schaute hervor. Wir fühlten uns wie in einer neuen, sanfteren Welt. Das breite Tal erstrahlte in hellem Grün, der forellenreiche Fluss in der Mitte schimmerte wie ein silberner Spalt, die Luft trug den Duft des Moorlandtorfes.

... von harten Burschen ...

Auf dem Hang gegenüber beleuchte die Sonne einen hellgrünen Feldweg, der steil nach oben führt. Diese Wege sind die Narben eines verwichenen Zeitalters: von Gras überwucherten Pfade der Bergarbeiter, die über ein Jahrtausend lang Blei aus den Hügeln gruben. Blei aus den Dales liegt heute noch auf den Dächern des Petersdoms in Rom, einiger Klöster in Frankreich und des Schlosses in Windsor.

Die Gruben wurde Ende des 19. Jahrhunderts stillgelegt, als leichter zugängliches Blei in Spanien entdeckt wurde. Noch heute sind am Ende der grünen Straßen die Stolleneingänge zu sehen. Stundenlang hatten die Männer hier im Dunkeln geschuftet. Harte Burschen, die viel zu früh starben – an Bleivergiftung, Lungenkrankheiten oder Rheuma. Angeblich sangen sie, als sie, mit nur dünnem Haferbrei im Magen, zur Arbeit marschierten.

Die Bauern von heute, mein Onkel Charles zum Beispiel, haben nicht nur die grauen Häuser dieser Bergleute geerbt, sondern auch ihre Widerstandsfähigkeit und ihren trockenen Humor. Das Leben der Schafbauern sieht einfach und gemütlich aus, ist aber harte Knochenarbeit, die kaum mehr rentabel ist. Die Globalisierung, klagen sie, und die Brüsseler Beamten, hätten ihre jahrhundertealte Lebensweise zum Tod verurteilt.

Bradford, die nächstgelegene Großstadt, war einst der Nabel der Wollindustrie. Stauseen entstanden, um Wasser für das Wollewaschen zu speichern. Heute wird die Schafwolle im Ausland gewaschen, für ihre Wolle bekommen die Bauern so wenig, dass manche ihre Felle lieber verbrennen. Dazu kam die Maul- und Klauenseuche vor sieben Jahren, Tausende von Schafen mussten notgeschlachtet werden. Im April, der Paarungszeit der Lämmer in Yorkshire, kommt mein Onkel kaum zum Schlafen. „Das Leben wird nicht leichter“, berichtet er mit einem fröhlichen Grinsen.

Die Vorhänge aus Spitze sind nur ein kleines Zeichen in einer Welt, die sich ändern muss, um zu überleben. 1838 gab es in Kettlewell ein Bergwerk, eine Spinnerei, sechs Gasthäuser, drei Schulen und einen Schneider. Heute gibt es kaum noch Arbeit für die jungen Leute im Dörfchen. Sonst wäre ich vielleicht auch dort geblieben.

... und irrwitzige Geschichten

Vielleicht kann der Tourismus das Überleben der Yorkshire Dales sichern. So werden alte Bauernhäuser zu „Bed & Breakfast“ umgebaut, nun haben die Dalesmen Angst, dass der Charakter ihrer Heimat verloren geht. Ich habe nicht so viel Angst. Die einzigartigen Yorkshire Dales sind ein perfektes Urlaubsziel für Naturfreunde und Authentizitäs-Fans. Mountainbiker streifen durch die Täler, Wanderer stiefeln auf den aussichtsreichen Wegen, die immer an einem Pub vorbeiführen. Und Kultur? Findet man bei den halb zerfallenen Klöstern Bolton Abbey und Fountains Abbey sowie in den kleinen Städtchen wie Skipton oder Harrogate mit seinen heilenden Quellen und alten Teestuben.

Ich liebe das stürmische Winterwetter, wenn die offenen Kohlenfeuer in den Pubs brennen und die Landschaft wunderbar feucht riecht. Der Sommer ist sanfter und kühler als in Mitteleuropa. Und sollte es einmal regnen, dann verstecken Sie sich doch einfach in einem rustikalen Pub, bestellen ein Black Sheep-Bier an der Theke und lassen Sie sich von einem Yorkshire Dalesman ein paar irrwitzige Geschichten erzählen.

YORKSHIRE TALES

Wandern. The Pennine Way (412 km) ist der große Klassiker unter den Wanderwegen vom Peak District im Süden über die Yorkshire Dales nach Schottland. www.nationaltrail.co.uk/PennineWay

Anreise: von Wien nach Leeds mit British Midlands oder fünfmal pro Woche mit Austrian. www.aua.com

Infos: British Tourist Authority 0800 007 007 007
www.visitbritain.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2008)

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