Auf der Insel der schweigenden Riesen

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Es ist einer dieser Orte, die einen fragen lassen: Wie komme ich hierher zu diesem einsamen Punkt im Pazifik? Wieso ist es hier so öde? Woher sind die gewaltigen Steinfiguren, die so stoisch in die Ferne starren? Wieso lebt hier überhaupt jemand? Und warum kann nicht jeder so cool sein wie die Rapanui, die Ureinwohner der Osterinsel?

Wie komme ich hierher?“, fragt sich Gabriel Bagradian, Held von Franz Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, zu Beginn des Buchs, als er von einem Hügel aus über Herden roter Riesenanemonen in die Ebene von Antiochia und aufs Mittelmeer blickt.

Ich frage mich gerade das gleiche. Ja ja, mag elegisch klingen – aber dieser Ort, wo ich jetzt bin, der so abgelegen und bizarr ist wie nur wenige auf diesem Globus, der bewirkt so was. Man denkt echt solche Sachen! Ich steh auf einer gelb verdorrten Wiese mit lila Disteln und blicke auf den Pazifik, der wie mit dem Messer geschnittene Horizont wölbt sich, das satte Blau von Himmel und Wasser ist drückend, die Luft frisch, links ragt ein grasiger Vulkan hunderte Meter hoch wie eine Glocke, und zwischen mir und dem Meer entrollt sich donnernd ein Wunder: 15 riesige Figuren ohne Unterleib aus Basalt, die stehen einfach so da, in einer Reihe auf einem Steinpodest, so wuchtig wie ein Schlachtschiff. Und die See zischt.

Ihre Gesichter mit den leeren Augen haben einen entrückten, fast arroganten Ausdruck. Man könnte meinen, die Steintitanen zögen ein Schnoferl wie grantige Wiener. Verdammt! 14.834 Kilometer ist man von der Stadt weg, aber der Alltag dort kracht einem sogar hier auf der Osterinsel, mitten im Pazifik, von tausenden Kilometern Wasser umgeben, ins Tagträumen rein. Und dann turnt auch noch plötzlich ein hyperaktiver Fernsehmoderator im hyperbunten Blumenhemd um die grimmigen Figuren und schnattert auf Spanisch in die Kamera. Vermutlich was fürs Kinderfernsehen, so kommt's jedenfalls rüber.

Die Sache mit den Blumen. Nun gut, wie ich hierher kam, ist einfach: Drei Stunden von Schwechat nach Madrid, 13 Stunden nach Santiago de Chile, eine Übernachtung, und weitere fünfeinhalb Stunden übers Meer. Na ja, „Magic Life“ irgendwo in der Türkei ist's halt nicht. Aber eigentlich ist die Frage, wie dieherkommen, jene suspekten Figuren, die, je nach Größe, zehn bis 270 Tonnen wiegen, und von denen es auf der Insel, die von oben wie ein leicht nach links gekipptes Geodreieck aussieht, mit je einem Vulkankegel in den Ecken und 40 Prozent der Fläche Wiens, 887 Stück gibt. Die liegen und stehen überall herum. Doch dazu später. Zuerst ist da nämlich die Sache mit den Blumen.

Nicht wenige von den Leuten, die mit uns aus dem chilenischen Airbus klettern und durch die leicht schwüle Luft über den Asphalt zum kleinen Gebäude des Mataveri-Airport gehen, haben nämlich rote und weiße Blüten im Haar. Die wirken erstaunlich relaxt, haben meist langes schwarzes Haar, und die Männer sähen aus wie Piraten, meint Susi, meine Frau; einige seien sogar ziemlich lecker. Das also sind die Oster-Insulaner, von der Ethnie her Polynesier – sie nennen sich, wie ihre Insel, Rapanui. Gut 3500 leben auf dem Eiland, das Chile 1888 annektierte.

Die Ahnen von denen tauchten zwischen dem fünften und siebten Jahrhundert auf, von Westen her auf Booten, aus Tahiti und von den Marquesas. Man stelle sich vor: Das sind über 3500 Kilometer übers Meer, gleich weit weg wie Südamerika. Nur ganz wenige Orte sind so entlegen wie jenes geheimnisvolle Dreieck, wo der Holländer Jakob Roggeveen am 5. April 1722 als erster Europäer landete; das war Ostersonntag, daher der Name. Die Chance, dass jemand auf diese Stecknadel im pazifischen Heuhaufen stieß, war winzig. Wer weiß, wie viele Boote in den Weiten verschwanden. Und so gab es nur eine, maximal zwei Einwanderungswellen. Und dann Einsamkeit.

Jedenfalls stehen plötzlich zwei dieser Piraten da und hängen uns stark riechende Blütenketten um. „Iorana“, sagen sie, „Willkommen“. Ich dachte immer, das gäb's nur in Elvis-Filmen, aber die sind hier echt so drauf! Sie fahren uns zu den „Cabañas Vai Moana“, Bungalows in einem tropischen Garten, feine Sache. Findet man im Internet. Sie reden wenig, aber wenn sie miteinander plaudern, hört man vor allem Selbstlaute. „Maururu“ etwa heißt Danke, „Ika“ Fisch und „Poki“Kind. Ihre Sprache hat nur zehn Konsonanten, sie klingt irgendwie bunt.

Wo sind all die Bäume hin? Als wir mit einem gemieteten Jeep zur Orongo-Kultstätte auf den Vulkan Rano Kao fahren und über die Insel schauen, merken wir, dass es hier aber nicht gerade bunt ist: eher spröde, fast trostlos. Außer Hanga Roa – dem einzigen Ort hier, einem Gestreu aus Steinhäusern, Holzhütten und oft unasphaltierten Straßen zwischen Guavenbüschen und Palmen – sind die Hügel und Ebenen ein braungrünlicher Einheitsbrei. Nirgends Bäume, nur Büsche und Grasland. Dafür stechen überall dunkle Statuen wie Lanzen aus dem Boden. Viele liegen mit dem Gesicht nach unten da.

Tita, eine quirlige Rapanui, die irgendwie ausschaut wie eine etwas festere Kubanerin, erklärt das Rätsel: „Die haben damals alle Bäume abgeholzt, wegen der Figuren“, sagt sie. Was ganz üble Folgen hatte: Bürgerkrieg, Hunger, ja fast wären alle ausgestorben.

Die Sache war nämlich so: Es waren einmal elf Clans, die miteinander wetteiferten; eigentlich eher friedlich, denn anders als im Rest Polynesiens waren Raubzüge hier kaum einträglich. Ab etwa 700 bauten die Clans „Ahus“, das waren Stätten für den Ahnenkult. Etwa ab 1000 stellte man dort Statuen auf, die „Moais“, sie stellen bedeutende Ahnen und Adelige dar. Da jeder Häuptling versuchte, einen noch größeren zu haben, wurden sie mit der Zeit immer riesiger. Die erwähnten 15 Figuren etwa (die am berühmten Ahu Tongariki im östlichen Eck der Insel, die größte Kultstätte Polynesiens) sind bis zu neun Meter hoch und 88 Tonnen schwer.

Die Moais wurden am Vulkan Rano Raraku aus Basalt gehauen. Jetzt kommen die Bäume ins Spiel: Einst war die Insel dicht mit Palmen bestanden, genauer mit der chilenischen Weinpalme, aus der man auch ein alkoholisches Getränk gewinnen kann. Die Figuren wurden auf Holzrollen zu den Aufstellungsorten geschleppt. Dass das ohne Hilfe Außerirdischer ging, wie der Schweizer Hobbyarchäologe Erich van Däniken spekulierte (solche Szenen sind im CD-Booklet des legendären Tocotronic-Albums „K.O.O.K.“ abgebildet), zeigen Experimente im 20. Jahrhundert: 15 Mann konnten einen Zwölf-Tonnen-Moai in einer Woche 15 km weit ziehen und über eine Rampe aufstellen.

Der Holzverbrauch dafür war enorm, und im kühlen Winter brauchte man Brennholz. So wurde irgendwann zwischen 1600 und 1650 die letzte Palme gefällt. Nun war das Dreieck im Pazifik nackt, die Böden erodierten, man konnte keine Fischerboote mehr bauen, Armut griff um sich. Um 1680 hörte der Statuenbau fast über Nacht auf; es folgte ein ewiger Krieg um die wenigen Ressourcen. Die Clans rissen einander die Statuen um, es gab Kannibalismus: „,Das Fleisch deiner Mutter steckt zwischen meinen Zähnen‘ war eine schlimme Beleidigung damals“, grinst Tita.

Als James Cook 1774 kam, war er von den Zuständen angewidert und schrieb von „elenden Gestalten“, die über die Ödnis krochen. 1838 sahen Besucher den letzten Moai stehen. Sklavenhändler aus Peru entführten viele Rapanui, 1877 waren noch 111 übrig – von einst fünf- bis siebentausend.

Erst lang nach der Annexion durch Chile ging's aufwärts. Seit den 70ern hat man viele Moais aufgerichtet, denn der 1967 gebaute Flughafen (die Landebahn ist übrigens so lang, dass im Notfall Space Shuttles landen können) schuf Chancen für den Tourismus. Sehr viel ist hier heute aber (Gott sei Dank) dennoch nicht los: Im Vorjahr kamen nur um die 60.000 Besucher.

Manche dürfte „Rapa Nui“ angelockt haben, jener Film von Kevin Costner von 1994, der vom Niedergang der Insel handelt. Eine der heißesten Sequenzen spielt an der erwähnten Orongo-Kultstätte beim Vulkan Rano Kao, wo man hoch über dem Meer steht und den Horizont sich biegen sieht. Da gab's ein wildes Wettrennen, bei dem Jünglinge die Steilküste ins Meer abstiegen, Hunderte Meter zum Motu Nui-Felsen schwammen, um Vogeleier zu holen, dann zurück und wieder hoch. Wer zuerst oben war wurde „Vogelmann“. Das war was besonderes, man hatte ihm sogar eine Jungfrau reserviert – das war halt damals so in den Zeiten, als man noch politisch unkorrekt sein durfte.

„Heute tun sie das nicht mehr“, erklärt Tita, es sei zu gefährlich, die hätten sich damals oft alles gebrochen, und manchmal wär der Hai gekommen. Freilich gibt's einen verdammt steilen Hügel, wo junge Wilde alljährlich an Holzschlitten festgezurrt runter rasen. Manch einer breche sich noch was, aber dafür seien sie Helden, meint Tita.

Reiten mit dem Gaucho-Pirat. Jedenfalls ist der Massenstrom an Touristen noch ausgeblieben; also kann man lässig durch die Einsamkeit reiten, etwa mit Petero, dem Guide, der aussieht wie ein Gaucho-Pirat und ganz glücklich ist, wenn er sich mitteilen kann. Auf braunen Gäulen geht's den Maunga Terevaka, mit 507 Metern der höchste Vulkan, hinauf. Petero wirkt leicht eingeraucht; er meint, das trüge nur, er habe 170 Pferde und Kühe und Frau und Kinder, da könne er nimmer so wild sein wie früher. Der Blick ist von da oben aber auch so genial. Übrigens stehen am nahen Strand von Anakena doch viele Palmen – man hat sie aber importiert.

Extrem mystisch ist's am Rano Raraku, wo sie die Moais gemacht haben. Fast 400 Figuren stehen halbfertig herum, meist schief im Boden eingesunken, und starren in die Ferne. Einige stecken noch wie Ziegel im Felsen. Vom Meer weht eine steife Brise, Tita erzählt von der Szene in „Rapa Nui“, in der hier ein Moai umfällt und einen Baumeister erschlägt; der Darsteller sei ein Verwandter gewesen. Damals waren viele Insulaner Statisten. Ich lehne mich an eine extrem schräg stehende Figur und hoffe, dass sie stehen bleibt.

Kommt man mit der Isolation klar, lebt sich's hier gut. Der Tiroler Nikolaus Kaltenegger führt das Hotel „Gomero“, bei seiner Rapanui-Frau Maria Icka fällt einem die Kinnlade runter. Es sei sauber und sicher, meint er. Überhaupt hat Hanga Roa, wo fast alle im Tourismus jobben, Figuren machen und Obst verkaufen, gutes „Jojo“, also gute Vibes, überall Stände mit Fruchtsäften, man grillt Fisch, in einer Bar an der Hauptstraße werkt ein schräger Typ mit Zopf, Kopftuch, Sonnenbrille und Nietengürtel, den man sexuell nicht so zuordnen kann, der aber geniale Empanadas (gefüllte Teigtaschen) macht. Er redet auch wenig, grummelt nur, als mich ein fröhlich betrunkener Insulaner („Ich bin Zimmermann, und für heut' ist genug!“, lallt er) von seinem Packerlwein trinken lässt und polynesische Hadern grölt.

Und dann sind da wieder die Piratentypen, die launig auf Pferden durch die Straßen reiten, teils mit nacktem Oberkörper, was meiner Frau gefällt. Ich erwidere, dass ich die hiesigen Inselblumen auch recht erbaulich fände.

Falls Sie einen Tipp brauchen: Im „Vai Moana“ haben sie gute Betten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2009)

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