Kanada: Kleiner Kolibri tanzt im Takt der Erde

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Manitoulin Island im Huronsee im Südwesten des Landes ist die Heimat der Anishinabe. Wer die Kultur und die Geschichte der First Nationes, wie die indigenen Völker genannt werden, kennenlernen will, ist auf der größten Binnensee-Insel der Welt gut aufgehoben.

Joseph erzählt. Über seine Kindheit bei den ungeliebten Pflegeeltern, die schreckliche Zeit im Internat, in der von Jesuiten betriebenen Residential School, in der manche Patres, wie er sagt, nachts in die Zimmer kamen. Über seine Ehe, die schlimme Zeit mit dem Alkohol und die Zeit danach.
„Wer hier hat Kinder?“ Von sieben Anwesenden hebt nur eine die Hand. „Wie alt?“ „Fünf.“ „Wie wäre es, wenn dir morgen jemand sagt, dass dein Kind ab sofort woanders lebt? Das würdest du doch nicht zulassen?“ Der 67-Jährige gehört zu jener Generation kanadischer Ureinwohner, die per Regierungsbeschluss von ihrer Kultur „geheilt“ werden sollte, indem sie als Kind von ihren Eltern und damit natürlich auch von ihrer Sprache getrennt wurden. Die letzte Residential School Kanadas schloss erst 1996.
First Nations, also erste Nationen, nicht „Indianer“ („indians“), ist im Englischen der politisch korrekte Ausdruck für alle Ureinwohner Kanadas. Er beschreibt prägnant und respektvoll, was Tatsache ist: dass sie zuerst da waren. Wer länger auf Manitoulin Island im Süden der Provinz Ontarios bleibt und mit Angehörigen der First Nations ins Gespräch kommt, erfährt erstaunlich schnell Persönliches. Herzzerreißende Details, wie zum Beispiel, dass die Pflegemutter das Geld, das sie für Joseph erhalten hat, stets für neue Kleidung der eigenen sechs Kinder verwendet hat, während er nur die alten, abgetragenen Sachen bekommen hat.

Acht Reservate

Begegnungen dieser Art ermöglicht der Great Spirit Circle Trail, eine Tourismusorganisation auf Manitoulin Island, die acht Reservate repräsentiert. Reservat heißt, dass das Land ausschließlich den First Nations gehört und auch von ihnen selbst verwaltet wird. Die idyllische waldreiche Seenlandschaft der größten Binnenseeinsel der Welt steht dabei oft genug in krassem Kontrast zu der Historie ihrer Ureinwohner.
Das Büro in M'Chigeeng vermittelt Kanufahrten und Tipiübernachtungen, bietet Backkurse für das traditionelle Bannock, Brot, oder ermöglicht es, wie eingangs geschildert, in der Nishin-Lodge im Reservat Sheshegwaning im Westen der Insel mitten im Wald am offenen Feuer zu sitzen und einfach nur zuzuhören. Den Part der Guides übernehmen stets Angehörige der Anishinabe, der auf Manitoulin Island heimischen Volksgruppe, die sich wiederum aus den Völkern der Ojibwe, Odawa und den Pottawatomi zusammensetzt.

Great Spirit Circle Trail

Bestimmte Grenzen möchte die Tourismusorganisation jedoch nicht überschreiten. „Es gibt eine feine Linie zwischen dem Teilen der eigenen Kultur und deren Verkauf“, sagt Falcon Migwans, Mitarbeiter des Great Spirit Circle Trail. So lehnt er es zum Beispiel ab, Touristen in eine Schwitzhütte mitzunehmen, einem traditionellen Reinigungsritual vieler First-Nations-Stämme. Dagegen bringt der 37-Jährige Besuchern mit großem Enthusiasmus den „Herzschlag der Mutter Erde“ in Form von Trommelworkshops näher – Mittrommeln ist ausdrücklich erwünscht. Auch führt Migwans Besucher in die Welt der spirituellen Namensgebung ein. So erhält jeder First-Nations-Angehörige im Lauf seines Lebens zusätzlich zu seinem bürgerlichen Namen auch einen, der aus der Natur stammt und in Einklang mit dem Wesen der Person steht.
Im Fall von Migwans lautet dieser Little Hummingbird – auf Deutsch: Kleiner Kolibri. „Als achtjähriger Bub war ich natürlich zuerst enttäuscht – ich hätte lieber einen Namen wie Großer Bär bekommen.“ Doch der Kolibri gilt als Botschafter – und so sieht sich Migwans heute auch als Botschafter seiner Kultur.
Ihren Stolz, trotz allem überlebt zu haben, zeigen die Ureinwohner Kanadas beim Powwow, der Zusammenkunft schlechthin, bei der sie in traditionellen Gewändern tanzen, trommeln und singen. So wie David Migwans, 54, aus M'Chigeeng, der in seinem spektakulären Jägeroutfit tanzt und dabei die Bewegungen eines Spurensuchers nachahmt.

Chiefs, Elders, Veterans

Oder Bonnie Akiwenzie und Bnaaswi Biiaaswah, die beide schon seit vierzig Jahren tanzen und Powwow-Wettbewerbe gewonnen haben. „Als ich ein Kind war, haben meine Eltern behauptet, wir wären keine Indianer – ich habe das erst viel später erfahren“, erinnert sich Biiaaswah. Seine Eltern seien zur Residential School gegangen und hätten keinen Bezug zur eigenen Kultur gehabt. Er selbst habe erst über die Powwows seine Kultur, die der Ojibwe, kennengelernt. Jeder Powwow beginnt mit dem „großen Einzug“ der Häuptlinge („chiefs“), der Respektspersonen („elder“ – die allerdings nicht in Jahren alt sein müssen) und der Veteranen. Während dieser Zeremonie müssen alle stehen, keiner darf fotografieren.
Die First Nations bezeichnen ihre prachtvollen Gewänder im Englischen nie als Kostüm („costume“), sondern als „regalia“. Dies soll ausdrücken, dass es sich eben nicht um eine Verkleidung handelt, sondern die Gewänder Ausdruck der jeweiligen Persönlichkeit sind.
Auf Außenstehende lauern also jede Menge Fettnäpfchen, sodass es sich empfiehlt, sich vor dem Besuch eines Powwows mit ein paar Verhaltensregeln vertraut zu machen. Auch dabei hilft die Tourismusorganisation. Der Stolz und die Haltung, mit der die Anishinabe ihre Kultur feiern, fasziniert und ist vielleicht gar nicht so weit von der Ernsthaftigkeit entfernt, mit der beispielsweise die Alemannen ihre Fastnacht feiern.
Oft muss Falcon Migwans aber noch Basisaufklärung betreiben. „Es gibt immer noch Leute, die zu uns kommen und fragen: ,Warum wohnt ihr nicht im Tipi, wo sind eure Federn?‘ Sie glauben, wir leben noch wie vor 200 Jahren oder in einer Art Disneyland. Aber auch wir sind im Jahr 2015 angekommen, wohnen in Häusern und tragen Jeans.“
Er habe sich bewusst für die Pflege der eigenen Wurzeln und Werte entschieden: „Einige First Nations leben in den Städten und merken vielleicht erst mit 40 oder 50 Jahren, dass ihnen etwas fehlt. Ich habe meine Wahl bereits getroffen.“

MITTROMMELN BEIM GROSSEN POWWOW, WANDERN UND KLETTERN AN ABGRÜNDEN

Allgemeine Infos: http://circletrail.com/, www.ontariotravel.net/de
www.keepexploring.de

Anreise: Wien–Toronto–Sudbury–Wien ab 1454 Euro (Stand: August 2015) mit Air Canada. Wer längere Wartezeiten oder zusätzliche Zwischenstopps akzeptiert, fliegt günstiger. Von Sudbury aus zwei Autostunden bis nach Little Current auf Manitoulin Island. www.aircanada.com

Essen und trinken: Gute Pasta, Fisch- und Fleischgerichte im Restaurant des Hotels Manitoulin Island. Für etwa 20 Euro erhält man ein vorzügliches Menü samt Salat. Sonst besteht die Esskultur eher aus Fast Food. www.manitoulinhotel.com

Übernachten: Das von den Anishinabe geführte Manitoulin Hotel in Little Current bietet schöne, große Zimmer mit zwei großen Betten, nur süßes Frühstück, die Zimmerfenster lassen sich nicht öffnen. DZ/F etwa 130 Euro, im Zimmer mitübernachtende Kinder kosten nichts. Alternativ empfiehlt sich ein Cottage wie das Bayside Resort in Manitowaning, Cottage ab etwa 600 Euro pro Woche inklusive Wifi, Paddelboote, Kanus etc., Lage direkt am Wasser im Reservat Wikwemikong. www.baysideresort.ca

Einzelne Reisepackages: Das Song-and-Drum-Make-and-Take-Package für 160 Euro pro Person ist nicht nur eine spannende Erfahrung, sondern liefert auch das Mitbringsel, eine Trommel im Wert von rund 135 Euro. http://circletrail.com/tour-packages/voice-of-the-drum/ Nishin Lodge: Eine Übernachtung für bis zu zehn Personen kostet in der einfachen Unterkunft etwa 300 Euro, Selbstversorgung oder Catering auf Anfrage. http://circletrail.com/accomodations/

Infos über Powwows: http://circletrail.com/culture/powwow-dance-styles/, Termine unter: http://circletrail.com/events-calendar/

Aktivitäten:
1. Auf eigene Faust den Cup-and-Saucer-Trail erkunden. Vorsicht: Die Route ist zwar einfach, die Beschilderung dagegen mäßig. Tipp: Wanderkarte am Eingang fotografieren. Der Wanderweg führt nah am Abgrund vorbei und hat Kletterstellen; Kinder instruieren oder an die Hand nehmen. Wanderzeit großzügig planen, damit man vor der Dämmerung zurück ist. Gutes Schuhwerk erforderlich, auch wenn andere in Segelschuhen oder gar Flip-Flops entgegenkommen.
2. Die Ojibwe Cultural Foundation in M'Chigeeng zeigt Kunst und Historie der Anishinabe, täglich geöffnet, Eintritt: ca. 5,20 Euro. www.ojibweculture.ca
3. An einem Gottesdienst der katholischen Kirche The Immaculate Conception in M'Chigeeng teilnehmen, der auf wunderbar entspannte Weise Christentum und Anishinabebräuche fusioniert. Auch die Architektur der Kirche vereint Anishinabe-Kultur und Christentum. Es gibt einen englischsprachigen Flyer in der Kirche, der dies sehr gut erläutert.

Literatur:
Der Reiseführer „Kanada – Der Osten“, im Verlag Stefan Loose erschienen, ist eine Übersetzung des englischen „The Rough Guide to Canada“. Er enthält ein kleines Kapitel über Manitoulin Island und empfiehlt sich, wenn man noch mehr Regionen Ontarios, Québecs oder Neufundland bereisen möchte. 24,99 Euro, erschienen 2014. www.stefan-loose.de

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