Deutschland: Das alte Neue und das neue Alte

GERMANY MONUMENTS
GERMANY MONUMENTS(c) EPA (MATTHIAS HIEKEL)
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In Dresden ist alles anders: Die Altstadt ist neu, die Neustadt ist alt, und die Menschen bekommen immer noch Kinder, was in Deutschland sonst eher wenige tun. Eine alte Tradition vielleicht?

Dresden ist schön. Um ehrlich zu sein: zu schön. Es hat etwas von einem barocken Disneyland. Im Innenhof des Dresdner Zwingers zu stehen ist schon ein wenig so, als wäre man die zum Leben erweckte Figur in einer Zuckergusswelt. Alles ist so süß. Die vielen Verzierungen an Giebeln, Simsen und Geländern, überhaupt überall, wo Platz ist, und die fehlenden Ecken, alles ist rund und sanft, fast möchte man bauchig sagen. Vielleicht stand Friedrich August I., der Erbauer, mit seiner Leibesfülle Pate beim Entwurf. August, den Starken nannte man ihn, wohl weil man sich nicht traute, ihn als den Dicken zu bezeichnen, der er mit seinen über 100 Kilo war.

24 Jahre alt war August, als er 1694 Kurfürst von Sachsen wurde, über das er bis zu seinem Tod 1733 herrschte. Er verwandelte Dresden in das Elb-Florenz, für dessen Anblick die Menschen noch immer in die Stadt pilgern: Zwinger, Frauenkirche, Schlosserweiterungen. Baumaterial hatte er mehr als genug, das Elbsandsteingebirge liegt vor der Haustür. So konnte er die Sandsteinblöcke am Wasser aus dem Berg hauen, auf ein Schiff laden und bis zu der Stelle bringen lassen, wo ein neues Gebäude errichtet werden sollte. Den Zwinger ließ August bauen, damit er richtige Partys schmeißen konnte, der Innenhof des Schlosses war ihm zu klein. Auf so einer Feier wäre so mancher Mann sicher gern dabei gewesen, denn August etablierte das Mätressenwesen in Dresden. Vielleicht hat man ihm auch deshalb seinen Beinamen verpasst. Eigentlich muss er ständig Sex gehabt haben, wenn er wirklich die 354 Kinder gezeugt hat, die man ihm nachsagt. Jeder von uns könnte mit ihm verwandt sein, immerhin hatte er Reisen bis hinunter nach Südeuropa unternommen und ist dabei auch durch Wien gekommen.

Die Pracht und Eleganz, die er an den Höfen im südlichen Europa kennengelernt hatte, wollte er auch in Dresden haben. Er baute wie wild, und damit seine Gebäude nicht einsam blieben, feierte er Partys, um sie mit Leben zu füllen, und sammelte Kunst, um sie mit Sinn zu füllen. Dresden war eine der ersten deutschen Städte mit öffentlich zugänglichen Museen. Doch der Zwinger, den wir heute sehen, ist nicht jener, den August hat errichten lassen. Wie auch in der Innenstadt kaum noch etwas so ist, wie es einmal war.

Avantgardistisch und billig

Am 13. und 14. Februar 1945 flogen die Allierten Luftangriffe auf Dresden und legten 95 Prozent der Altstadt in Trümmer. So gut wie alle historischen Gebäude sind eigentlich neu. Der Zwinger wurde 1964 wiedereröffnet, und man sollte sich freuen, dass die Luftqualität damals schlechter war und der Sandstein sich wieder verfärbt hat. So hat man die Illusion gealterten Gesteins. Rund um die Frauenkirche sieht es anders aus. Sie erstrahlt in neuem Glanz. Wie auch die Wohnhäuser um sie herum. Die Fassaden leuchten in den schönsten Pastelltönen. Sie sind perfekt im historischen Stil gebaut, aber eben erst in den 2000er-Jahren. Sie haben keine abgesprengten Kanten, keine Einzelglasfenster, keine Tränen vom dreckigen Regen. Wie in Disneyworld eben.

Will man die echte Altstadt sehen, muss man in die Äußere Neustadt hinüber auf die andere Seite der Elbe, vorbei am Reiterstandbild August des Starken bis an den Albertplatz, wo seinerzeit Dresden endete. Das Land hinter der Stadtmauer gab August 1701 zum Bebauen frei, „Neue Stadt bey Dresden“ wurde der Teil genannt. Una Giesecke lebt dort und führt Besucher durch ihren Stadtteil. Die Äußere Neustadt lässt sich nicht so einfach nach Must-see-Listen absolvieren, die spannenden Details liegen im Verborgenen. Giesecke steht am Albertplatz vor einem Betonklotz-Haus mit braunen wintergartenartigen Balkonerkern, die zugleich avantgardistisch und billig aussehen. „Das hier ist ein guter Plattenbau“, sagt die 48-Jährige. „Bei denen dort die Straße hinunter, da ist schon mal der eine oder andere Balkon abgefallen.“ Als das DDR-Regime dieses Hochhaus bauen ließ, hatte man schon jede Menge Erfahrung mit dem Plattenbau. Dieser hier teilte das klotzartige Gebäude in viele kleinere Klötze und durch das angedeutete Gaupendach verwies der Architekt auf die Gründerzeithäuser, die sich anschließen. Am 7.Oktober1989 wurde es eingeweiht – zwei Tage später gab es die DDR nicht mehr.

Das erste Hochhaus Dresdens wurde genau 60 Jahre früher gebaut, es steht in Sichtweite. Der erste Stahl-Beton-Skelett-Skyscraper Dresdens galt 1929 als ultimative Moderne, durfte aber nicht in der historischen Altstadt stehen.

Die erste Ansicht der Neustadt ist nach dem Pomp der Altstadt etwas ernüchternd. Doch hat man diese architektonischen Türsteher hinter sich gelassen, taucht man in ein Gründerzeitviertel ein, das seinesgleichen sucht. Ende des 19. Jahrhunderts erlebte das Viertel einen Bauboom. „Das Schöne war, dass sich die DDR-Führung nicht für diese alten Gebäude interessierte“, erzählt Giesecke, „ganz nach dem Motto: Ruinen schaffen ohne Waffen.“ Wer zu DDR-Zeiten etwas auf sich hielt, der zog in einen Neubau. So blieben die alten Gebäude unverändert erhalten. In der Neustadt hingegen entwickelte sich schon früh Eigeniniative, denn wer nicht selbst mit anpackte, dem fiel bald das Haus über dem Kopf zusammen.

Die Dresdner Neustädter haben auch nach der Wende nichts von ihrem Schwung verloren. Im Juni 1990 riefen sie in ihrem Stadtteil die „Bunte Republik Neustadt“ aus, gründeten eine provisorische Regierung, stellten ironische Forderungen wie den Anschluss an den Vatikan und beriefen Minister für Unkultur und Unterseeboote. „Der kleine Staat gab sogar Pässe raus“, erzählt Giesecke und reicht ein flatteriges Blatt Papier herum, auf dem ein Mickey-Mouse-Gesicht prangt. Die Staatsgründung wurde mit einem rauschenden Fest gefeiert. Die Regierung der Bunten Republik Neustadt hat sich zwar mittlerweile aufgelöst, das Stadtfest gibt es aber immer noch.

Dorthin sollte man gehen, um das klischeehafte Bild vom rechtsradikalen Osten Deutschlands zurechtzurücken, bunter geht es kaum. „Viele glauben ja, in der DDR habe es keine Ausländer gegeben“, hatte Giesecke bereits zu Beginn ihrer Führung erzählt, als sie auf dem Gomondai-Platz stand. „Auch in der DDR herrschte in den 1960ern Arbeitskräftemangel, weswegen Menschen aus den sozialistischen Bruderstaaten wie Kuba oder Vietnam zu Hilfe kamen.“ Jorge Gomondai kam 1981 als 18-Jähriger nach Dresden, zehn Jahre später endet sein Leben auch hier. Er war das erste Opfer neonazistischer Gewalt im wiedervereinigten Deutschland.

Giesecke führt in die Louisenstraße, eine der ältesten Straßen der Neustadt, die früher Schulgasse hieß. Vor dem alten Schul- und Waisenhaus bleibt sie stehen und erzählt von einem Philanthropen, Dr. Rädler, der Entwicklungsarbeit im eigenen Stadtteil betrieb. 100 Kinder lernten dort spinnen, stricken und nähen. Ein paar Häuser weiter gab es später eine Besserungsanstalt für straffällig gewordene vagabundierende Kinder.

Während sie spricht, schiebt eine Frau ihren Kinderwagen an der ehemaligen Schule vorbei. Wer in die Schaufenster der Cafés blickt, sieht Boxen mit Spielzeug für die Kleinen. Dresden hat die höchste Geburtenrate in ganz Deutschland. Offenbar haben die Dresdner immer noch, was August der Starke auch schon hatte: jede Menge Sex.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2015)

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