Chemnitz: Stadt der Möglichkeiten

Grimmig.  40 Tonnen schwer und sieben Meter hoch schaut Karl Marx auf Chemnitz.
Grimmig. 40 Tonnen schwer und sieben Meter hoch schaut Karl Marx auf Chemnitz.(c) Robert B. Fishman
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In den zahlreichen Industrieruinen und leer stehenden Gründerzeitbauten von Chemnitz arbeiten junge Leute an der Zukunft ihrer Stadt, die andere zu früh aufgegeben haben.

Zu sphärischen Klängen wabern künstliche Nebelschwaden durch ein Birkenwäldchen. Am Tresen des aus rohem Holz gezimmerten Raskolnikov warten ein paar junge Leute auf ihr Getränk. Die anderen haben sich mit einem Bier oder einem Wodka-Mix auf den Holzsofas ausgebreitet. Ein junger Mann steigt tropfend aus dem hellblau leuchtenden Schwimmbecken. „Baden auf eigene Gefahr“ hat jemand mit schwarzem Lack auf ein Brett gepinselt, das an einem Baumstamm neben dem Pool hängt.

Während sich der Himmel über der drittgrößten Stadt Sachsens, in der die Gegensätze aufeinanderprallen – Neubauten aus Glas und Beton, DDR-Plattenklötze, weite Brachflächen und Perlen der klassischen Moderne – langsam violett färbt, beleuchten gelbe, grüne und blaue Scheinwerfer die Nacht über Chemnitz. Rissige, grau-braune Fassaden verfallender Fabrikbauten reflektieren das bunte Licht. Jahrzehnte des Stillstands haben den Putz von den Mauern gefressen.

„Es ist Zeit hierherzuziehen“, sagt Eva, die junge Künstlerin mit den kurzen blonden Haaren. Verträumt blickt die 29-Jährige ins Leere, während sie von ihrem Kunststudium in Weimar und ihrer Jugend in Dresden erzählt. „Dort ist alles fertig, die Menschen sind satt. Jedes Angebot kostet Geld.“ Kultur werde den Besuchern in der nahen Landeshauptstadt nach dem Motto „Friss oder stirb“ vor die Nase gesetzt.

Gründerzeit. „Ordnung ist das halbe Leben, Schaukeln das andere“, hat Eva ihr Kunstwerk genannt: Acht in einem Oktagon angeordnete Schaukeln, die zusammenstoßen, wenn die Nutzer nicht aufeinander achten. Seit Tagen beobachtet Eva die Besucher der Kunstausstellung „Begehungen“, die jedes Jahr am dritten Augustwochenende stattfindet. Sie ist „begeistert von der Achtsamkeit“ der meisten. Einige setzen sich und beobachten, andere schaukeln drauflos. Ihr Werk, das auch in diesem Jahr zu sehen sein wird, versteht sie als Modell einer utopischen Gesellschaft, in der Menschen ihr Zusammenleben rücksichtsvoll miteinander aushandeln. „Eine Macherstadt“, urteilt nicht nur Eva über Chemnitz. „Die Leute drehen sich nicht weg, wenn du ein Problem hast. Sie schauen in ihren Rucksack oder in ihr Telefonbuch, um Hilfe zu suchen.“

Zauberhaft. Das Stadtbad aus den 1920ern ist eine Bauhaus-Ikone.
Zauberhaft. Das Stadtbad aus den 1920ern ist eine Bauhaus-Ikone. (c) Robert B. Fishman

Die zerrissene Stadt. 30.000 Wohnungen standen in Chemnitz zu Beginn dieses Jahrhunderts leer. Das einst wegen seiner Maschinenbau-, Motoren- und Textilindustrie „sächsisches Manchester“ genannte Wirtschaftszentrum drohte zu verfallen. 1945 hatten Bomben das Stadtzentrum in Schutt und Asche gelegt. Bis zu dem Zeitpunkt eine der reichsten Städte Deutschlands hatte Chemnitz damit, wie Stadtführerin Veronika Leonhardt sagt, „seine Seele verloren“.

Sie selbst ist in Karl-Marx-Stadt geboren. Anfang der Fünfzigerjahre erkor die Regierung in Ostberlin die zerbombte Arbeiter- und Industriemetropole zur sozialistischen Musterstadt: Breite Alleen, sieben-, acht- und zehngeschoßige Plattenbauten, weite, gepflasterte Plätze und das Karl-Marx-Denkmal entstanden. Der 40 Tonnen schwere und sieben Meter hohe Wuschelkopf schaut heute jungen Skatern und Bikern zu, die auf den Betonplatten unter seinem bärtigen Kinn ihre Runden drehen. „Nischel“, sächsisch für Kopf, tauften die Einheimischen ihren neuen, ziemlich finster dreinschauenden schwarzen Mitbewohner – einst Symbol der roten Berliner Fremdherrschaft, inzwischen als Motiv auf Schnapsflaschen, Schlüsselanhängern und sonstigen Nippes vermarktet.

Industrialisierung, Gründerzeit, Jugendstil, Bauhaus, realsozialistischer Plattenbau und Postmoderne: Die Epochen der vergangenen 200 Jahre haben in Chemnitz ihre Spuren hinterlassen. So entstand ein Mix aus emblematischen Bauten der Moderne – wie das heutige Museum Gunzenhauser von 1930, das ehemalige Kaufhaus Schocken im Stil der neuen Sachlichkeit, DDR-Architektur wie die Stadthalle aus den Siebzigern, weitläufige Indus-trieareale aus dem 19. Jahrhundert und Nachwende-Bauten, wie zum Beispiel der Glaspalast des Kaufhofs, in dessen Fassade sich das neue Rathaus von 1911 und das wiederaufgebaute alte aus der Renaissance spiegeln.

Kunst-Spielwiese. Mehr als 300.000 Einwohner zählte Karl-Marx-Stadt in der DDR. 60.000 weniger sind es heute. „Ich dachte, die ganze Stadt sei leer“, erinnert sich der spanische Künstler Agustin García an seinen ersten Eindruck von Chemnitz. „Die Schließung der vielen Großbetriebe muss die Menschen tief getroffen haben“, vermutet der 29-Jährige. Dann entdeckte er mit seiner Partnerin Nina Langwehn „die vielen freien Flächen und Möglichkeiten“ wie die ehemalige Spinnereimaschinenwerke im Stadtteil Altchemnitz. Die beiden jungen Künstler bauten im Rahmen des jährlichen Festivals „Begehungen“ ihre Installation „Happy Losers“ neben Eva Oliviens Schaukeln auf.
„Hier gibt es keinen Kurator, der uns Vorschriften macht“, freut sich Kunststudentin Nina. „Wir haben hier alle Freiheiten.“ Jeden Sommer bespielen die „Begehungen“ leer stehende Häuser, Läden und Fabrikgebäude mit Kunstinstallationen und Performances.

Wo doch noch Platzbedarf besteht, dort hilft Lars Fassmann aus. An die 30 leer stehende Häuser rund um Fabrikgebäude hat der stille, kräftige Mann zusammen mit seiner Partnerin, einer Designerin, gekauft. Die meisten waren schon zum Abriss frei gegeben: undichte Dächer, brüchige Zwischendecken, zerschlagene Fenster. Fassmann kaufte sie zum Grundstückspreis und ließ nur das absolut Nötige wie Dach und Leitungen reparieren oder ersetzen. Statt Laminat zu verlegen und neue Türen einzubauen, renovierte er – wo möglich – die alten. „Das ist auf die Dauer kostengünstiger.“ Die preiswert sanierten Gebäude vermietet er zu moderaten Preisen gern an Künstler und andere Kreative.

Die Nutzer des Lokomov zahlen nur die Nebenkosten. So kann der gleichnamige Klub im Erdgeschoß Ausstellungen, Filmabende und Konzerte organisieren. Auch ein ehemaliges Sparkassengebäude hat Fassmann übernommen. Dort ziehen Wohngemeinschaften, junge Unternehmen und ein Coworking-Space ein: Büros, die Menschen gemeinsam nutzen, um Kosten zu sparen, sich auszutauschen und miteinander zu vernetzen.

Bürgerlich. Renovierter Prachtbau einer Sparkasse aus dem Jahr 1855.
Bürgerlich. Renovierter Prachtbau einer Sparkasse aus dem Jahr 1855.(c) Robert B. Fishman

Abwanderung gestoppt. Als Wohltäter versteht sich der 38-jährige Unternehmer nicht – eher als jemand, der langfristig rechnet. „Künstler“, sagt Fassmann, „sind Leute, die Ideen haben. Sie bringen die Stadt weiter.“ So entstehe eine Dynamik, die neue Interessenten anlocke. „Wir investieren in unsere eigene Lebensqualität“, ergänzt Fassmanns Partnerin – und in den Wert der Immobilien. Auf die Prognosen der Bevölkerungsforscher geben die beiden Investoren nicht viel. Lang galt Chemnitz als sterbende Stadt. Inzwischen ist die Abwanderung gestoppt.

Die unfertige Stadt. „Brühl Boulevard“ steht in verblassender Schrift über der einst beliebtesten Einkaufsstraße der Region. In einem Straßenbeet blüht eine einsame Sonnenblume. Der Laden an der nächsten Ecke steht leer. Nach dem Ende der DDR verfiel das Viertel – bis Leute wie Guido Günther und Laura Tzschätzsch kamen. Die Studienplatzlotterie hatte die junge Berlinerin nach Chemnitz verschlagen. Inzwischen hat die 28-Jährige auf dem Brühl zwischen leer stehenden Gründerzeithäusern und Sanierungsbaustellen das erste Café eröffnet. Im Brühlaffen serviert sie selbst gebackenen Kuchen, Suppen und andere hausgemachte Leckereien, „alles bio und vegan“, wie sie versichert. An Chemnitz schätzt sie „das Unfertige, die vielen Brachen und Freiräume“ – wie den Brühl eben. „Man kann sich einbringen.“

Auferstanden aus Ruinen. An einem der Tische, die Laura vor ihrem Café auf die Straße gestellt hat, rührt Guido Günther in seinem Milchkaffee. Der junge Mann mit den langen Haaren und dem Vollbart hat mit ein paar Freunden „Rebel Art“ gegründet. Im Auftrag von Firmen, Hausbesitzern und Kommunen bemalen sie Fassaden mit bunten Graffiti.
„Anfangs konnten die Leute damit gar nichts anfangen“, erinnert sich Günther. „Inzwischen läuft es gut.“

Die Gebäude im Stadtteil übernahm nach dem Zusammenbruck der DDR die städtische Wohnungsbaugesellschaft GGG. Sechs Häuser hat das Unternehmen für Projekte wie die Brühlpioniere reserviert: Künstlerateliers, Wohngemeinschaften, kleine, kreative Unternehmen. Günther gründete mit seinen neuen Nachbarn und Mitbewohnern eine Genossenschaft, die das 1400 Quadratmeter große Eckhaus für 125.000 Euro erworben hat. Gemeinsam sanieren die Brühlpioniere ihr neues Domizil.
Unten soll eine Galerie einziehen, außerdem sollen Gastateliers für auswärtige Künstler entstehen und auf dem Dachboden Arbeitsräume für die Gemeinschaft. Auf dem Boulevard pflanzen Guido Günther und seine Mitstreiter Blumen und Bäume. Hinter einem der Häuser haben
sie ein Hochbeet angelegt, in dem frisches Gemüse gedeiht.

Für die Entwicklung des innenstadtnahen Viertels hat das Rathaus einen Quartiermanager eingesetzt. Der Architekt und Stadtplaner Urs Luczak kam 2002 nach Chemnitz. Offiziell firmiert er als Referent der Oberbürgermeisterin für besondere Projekte. Seiner Chefin sei „der Brühl als Quartier der Möglichkeiten ein ernsthaftes Anliegen“.

Um die verschiedenen Interessen im Viertel auszugleichen, organisiert Luczak Eigentümer- und Nachbarschaftsstammtische.

Auch für den Raumsoziologen Luczak ist die „geplante Entwicklung eines Kreativquartiers unter den Bedingungen der Marktwirtschaft“ etwas ganz Neues. In Chemnitz, wo so viele Kreative an der Zukunft ihrer
Stadt arbeiten, stehen die Chancen dafür besonders gut.

Tipp

Struppig. „Nischel“ nennen die Chemnitzer das Karl-Marx-Denkmal, das auch beliebte Souvenirvorlage ist. Hier aus Keramik bei bobwebshop.de

Süß. Einsiedler Sächsisch Radler mit Sinalco.
einsiedler.de

Spinnerei Chemnitz. Auf 80.000 Quadratmetern der ehemaligen Spinnerei gibt es Open-Air-Bühnen, Ausstellungen, Bars etc., Juni – Sept. bei schönem Wetter, Do–So ab 17 Uhr, Altchemnitzer Str. 27,
http://spinnerei.me/

Weltecho. Galerie und Bühne für kleine und große Kunst, Theater, Lesungen, Konzerte und mehr: Weltecho, Annaberger Str. 24,
http://weltecho.eu

Galerie Weise. Kleine, feine Galerie mit Kunst aus Chemnitz und dem Rest der Welt, Innere Klosterstr. 1 (Eing. Kirchgässchen), galerie-weise.de

Kunst- und Kulturhaus Arthurim ehemaligen Stasi-Gebäude, das junge Leute nach der Wende besetzten: Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, Poetry Slams, Comedy-Club, Kreativladen, Frauenzentrum und Kulturkneipe
Aaltra (aaltra-chemnitz.de), Hohe Str. 33, arthur-ev.de

Atomino. Angesagter Klub mit Konzerten und mehr im Keller des Kulturkaufhauses DAStietz in der Innenstadt (atomino-club.de), einst Heimat der Ost-Kultband Kraftklub (kraftklub.to), in der Innenstadt sitzt das Atomino-Tonträger-Label facebook.com/atominotontraeger

Die Zukunft. Alternativer, basisdemokratischer Klub und Konzert-Location in einer alten Fabrik, Motto: „Entweder man wird glücklicher oder schlauer oder zumindest ordentlich hacke.“ Jeden Do-Abend veganes Essen gegen Spende, Zukunft, Leipziger Straße 5, die-zukunft.club/sample-page/

Lokomov. Lesungen, Filmabende, Konzerte unter Originallampen aus dem DDR-Palast der Republik alias Erichs Lampenladen, sonntags ab 16 Uhr Suppen gegen Spende, Augustusburger Str. 102,
http://lokomov.de

Emmas Onkel. Leckereien und Jazz im Café. Weststraße. 67, facebook.com/esswagen/
Brühl. Ein Musterbeispiel demokratischer Stadt- und Quartiersplanung:
chemnitz-bruehl.de

Events: Juni-Sept (je nach Wetter): Stadtstrand an der Chemnitz mit Liegestühlen, Cocktailbar, Eiscafé, Sandstrand, Konzerten und mehr, jeden Sonntag Yoga, Falkestraße,
http://uferstrand.de

3. Wochenende im August: „Begehungen“. Kunstfestival. begehungen-chemnitz.debegehungen-chemnitz.de

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