Roh wie Rotterdam

Museal. Delfshaven, der alte Flusshafen von Delft, ist heute ein Stadtteil von Rotterdam.
Museal. Delfshaven, der alte Flusshafen von Delft, ist heute ein Stadtteil von Rotterdam.(c) holland.com
  • Drucken

Hollands Schmuddelkind hat sich herausgeputzt. Wo einst Seeleute in Hafenspelunken ihre Heuer versoffen, wachsen bis zu 50 Stockwerke hohe Wohntürme in den Himmel.

„Groos“, „chroos“ ausgesprochen, sagten sie in Holland früher für „Stolz“. Eine Handvoll Künstler und Designer haben das Wort wiederentdeckt. Jetzt heißt ihr Laden so. Dort verkaufen sie gemeinsam ihre Werke: Sofakissen zum Beispiel, die eine der Künstlerinnen mit alten Leuten strickt, damit diese sich nicht so allein fühlen, Kinderkleidung oder notizbuchkleine Kräutergärten fürs Fenstersims. Socken gibt’s, Designerstühle und aus Hartpappe gefertigte Landschaftsteile für Lego- und Duplo-Steine. Einzige Gemeinsamkeit: made in Rotterdam.

„Das Schöne an dieser Stadt ist, dass sie nicht so holländisch ist“, scherzt Simone. In der Stadt höre man alle Sprachen dieser Welt. „Holländisch eher selten.“ Menschen aus 170 Nationen leben in der zweitgrößten Stadt der Niederlande mit ihren rund 650.000 Einwohnern. Statt Windmühlen Wolkenkratzer, Würfelbauten aus der Nachkriegszeit statt Altstadt mit Grachten, ein Man­hattan-Tower beim nagelneuen Hauptbahnhof mit seiner mattgrau verkleideten Dreiecksfassade. Architektin Simone berät in ihrem Blog „Nach Holland“ Deutsche, die in die Niederlande übersiedeln wollen. Vor 16 Jahren zog sie wegen des Jobs nach Rotterdam. Damals hatte der Wandel begonnen. Das raue, hässliche Entlein der Niederlande fing an, sich schön zu machen. Man brauchte Fachleute, die an den kühnen Träumen von Hollands ewig Zweiter mitbauen wollten: eine Drahtseilbrücke über die Neue Maas zu Füßen des höchsten Wohnturms landesweit, die 44 Etagen hohe vertikale Stadt De Rotterdam von Rem Koolhaas und andere Luftschlösser. Dann kam die Krise.

Kreativ. Sogenannte „Bastelhäuser“ sollen den Niedergang schwieriger Stadtteile aufhalten.
Kreativ. Sogenannte „Bastelhäuser“ sollen den Niedergang schwieriger Stadtteile aufhalten. (c) Robert B. Fishman

Seit 2007 warten die Pläne auf Geldgeber, zum Beispiel für Katendrecht. Der Weg dorthin führt über die 1996 erbaute Erasmusbrücke nach Kop van Zuid. „Schwanenhals“ nennen sie das geschwungene Bauwerk wegen der eleganten Form. Im Abendlicht scheint die Brücke an ihren Stahlseilen über der Neuen Maas zu schweben. Drüben verschwimmen die glatten Fassaden der Hochhäuser in den tief hängenden Wolken. Erhalten geblieben ist beim Umbau der Halbinsel das Hotel New York. In seiner Mischung aus Jugendstil und Art déco ist es aus der Zeit gefallen. „Holland-Amerika Lijn“ steht in goldener Schrift über dem Eingang. Bis in die 1960er-Jahre brachen hier Hunderttausende in die Neue Welt auf.

Im Keller haben Friseure unter einer Stuckdecke ihr Quartier aufgeschlagen. In bald 100 Jahre alten Stühlen verpassen sie ihren Kunden „richtige Männerfrisuren“. Der Andrang ist groß. Manche Besucher verlassen den Salon wie einst Elvis oder James Dean die Bühne. Hinter dem Hotel New York verbindet eine Fußgängerbrücke das futuristische Kop van Zuid mit Katendrecht. Sie endet auf einem ehemaligen Hafenkai, an dem Rotterdamer Kreative vom verschwindenden Hafen hinterlassenen Fabrikshallen neues Leben einhauchen. Aus einer der Hallen scheinen bunte Lichter.

Im Inneren sieht es aus wie auf einem Markt. An einem Stand backen junge Leute frisches Brot, an einem anderen holt jemand Pizza aus dem Ofen. Mittendrin verkauft hinter bunten Gewürzhaufen ein Marokkaner mit einem roten Fes auf dem Kopf seine Spezialitäten. Auch er verwende „möglichst“ Zutaten aus der Umgebung, zum Beispiel Honig mit Senf. „So etwas haben wir in Marokko nicht“, erklärt der Mann. Roh-Terdam. „Rotterdam ist roh, niemals fertig, immer in Bewegung und in ständigem Umbruch“, sagt Paul, der nebenan das Restaurant Posse eröffnet hat. Er sitzt im karierten Hemd mit seinem Laptop an einem großen unbearbeiteten Holztisch am Rande einer Fabrikshalle. An der Wand hängt ein restauriertes schwarzes Fahrrad. Im Regal stehen nur ein paar alte Keksdosen. Metalllampen spenden gedämpftes Licht.

Unterirdisch. Fahradtunnel unter der Neuen Maas, erbaut zwischen 1937 und 1941.
Unterirdisch. Fahradtunnel unter der Neuen Maas, erbaut zwischen 1937 und 1941. (c) Robert B. Fishman

Der bärtige Inhaber mit dem stylischen Kurzhaarschnitt ist Fotograf. Er sammelt klassische Fahrräder, schraubt an einem uralten Minibus, der bald wieder fahren soll, kauft europaweit Fotokunst und serviert Leckereien aus einheimischen Zutaten. Sein Opa war Hafenarbeiter. „Er schleppte für zehn Cent Tageslohn 25 Kilo schwere Säcke auf die Schiffe. Zum Überleben brauchte er Erfindergeist.“ Das, meint Paul, sei typisch für Rotterdam. „Wir haben unglaublich viele kreative Leute hier.“ Fünf De­signer gründeten zum Beispiel die Super Use Studios. In einer ehemaligen Fabriksetage entwerfen sie aus vermeintlichem Müll neue Produkte. Sie bauen Spielgeräte aus demontierten Windrädern, Fassadenverkleidungen aus alten Kabelrollen, aus Stahlresten die Inneneinrichtung für Büros und Museen oder aus überflüssig gewordenen Flüssigkeitstanks Toilettenhäuschen. Zwei davon stehen im Jugendzentrum Worm, das Super Use komplett mit Upcycling-Produkten eingerichtet hat.

Schmuck aus Dreck. Am anderen Ende der Stadt summt in einem Gewerbegebiet ein silbrig glänzender, rund sieben Meter hoher Turm vor sich hin. Durch seine Lamellen bläst er Luft in die Umgebung. Der Smog-Tower gehört dem Künstler und Designer Dan Roosegaarde. Mit nachts leuchtenden Wegen und anderen Lichtinstallationen hat sich der „Sozialdesigner“ international bekannt gemacht. 70 Prozent des Feinstaubs und anderen Dreck filtere die Maschine heraus, erklärt Sebastian, ein Mitarbeiter des Künstlers. Die schwarzen Rückstände pressen seine Kollegen zu Klumpen, die sie zu Schmuck verarbeiten. Ein Ring mit einem solchen „Dreckstück“ als Stein kostet 250 Euro. Damit kaufe man 1000 Kubikmeter saubere Luft. „Im Moment“, sagt der junge Mann, „können wir nicht liefern. Wir müssen warten, bis sich wieder genug Stoff in den Filtern angesammelt hat.“ Vorbestellungen nehme er aber gern an. Den Smog-Tower will Roosegaarde an Städte verkaufen, die unter Luftverschmutzung leiden. Mit Peking verhandle man bereits.

Bombardement der Nazi-Luftwaffe. Rotterdam ist voller Ideen. Immer wieder hat sich die Hafen- und einstige Werftenmetropole aus Krisen herausgearbeitet. Am 14. Mai 1940 bombardierte die Nazi-Luftwaffe das Zentrum. Die Geschichte dazu findet sich hinter einer Stellwand in einer Ecke der Tourist-Information in der Innenstadt. Auf einem Fernseher laufen in einer Endlosschleife die Schwarz-Weiß-Bilder vom Untergang. Der Film zeigt Menschen, die mit angst- und schmerzverzerrten Gesichtern schreiend aus einstürzenden Gebäuden fliehen. Drei Tage brannte die Stadt. Kanäle und der breite Fluss, die Neue Maas, stoppten das Feuer. Brandgrens – Brandgrenze – heißt heute noch die scharfe Kante, die den Schnitt zwischen dem alten und dem neuen Rotterdam markiert.

Multilingual. Menschen aus 170 Nationen leben in Rotterdam, man hört entsprechend viele Sprachen.
Multilingual. Menschen aus 170 Nationen leben in Rotterdam, man hört entsprechend viele Sprachen.(c) holland.com

Kaum war Holland befreit, kamen Architekten aus dem ganzen Land, um an der Stadt der Zukunft zu bauen – oder dem, was sie dafür hielten: autogerechte Straßen, Bürohauskästen und Läden. Wohnen sollten die Menschen draußen im Grünen. Noch heute lebt nur etwa jeder zehnte Einwohner im Zentrum. Inzwischen hat der Trend, zurück in die Stadt zu ziehen, aber auch Rotterdam erfasst. Neue Innenstadtwohnungen sind vergeben, bevor die Arbeiter die Baugrube ausgehoben haben. Im Timmerhuis, dem gläsernen Neubau hinter dem Rathaus, hat Ossip eine der letzten Wohnungen gekauft. „Vom Plan weg“, wie der 34-Jährige in seinem rundum dreifach verglasten 100-Quadratmeter-Appartement erzählt. Im Rathaus zu seinen Füßen arbeitet Bürgermeister Ahmed Aboutaleb. Viele loben den muslimischen Sohn marokkanischer Einwanderer. Glaubt man einem deutschen Zeitungsbericht, empfiehlt der Stadtchef seinen Mit-Migranten, „weniger zu jammern, Niederländisch zu lernen und ihre Kinder in die Schule zu schicken“. Wer „die westlichen Werte“ akzeptiere, sei in Rotterdam willkommen.

Urlaub zu Hause. Als die Holländer im Wirtschaftsaufschwung Arbeitskräfte brauchten, holten sie sich Gastarbeiter aus Marokko, der Türkei und anderen Ländern. Dazu kamen Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien in Indonesien und der Karibik. „Hier hörst du alle Sprachen“, freut sich Holland-Erklärerin Simone. Rotterdam sei dank des Hafens immer eine Stadt des Kommens und Gehens gewesen. Viele ziehen her, bleiben ein paar Jahre und verschwinden wieder. Menschen aus 170 Nationen bringen ihre Ideen und Kulturen mit. Die bunten tropischen Läden sind für Simone „wie Urlaub zu Hause“. Jahrelang standen in Rotterdam viele Häuser leer. Inzwischen verkauft die Stadt unbewohnte Häuser billig an Investoren. Diese müssen dort mindestens drei Jahre wohnen und das Gebäude sanieren.

Klushuizen – Bastelhäuser – heißt das Konzept, das den Niedergang schwieriger Stadtteile aufhalten soll. Alternative: Anti-kraak Wonen. Damit in leer stehende Wohnungen keine Hausbesetzer einziehen, vermieten Agenturen die Räume weit unter dem Marktpreis zur Zwischennutzung. Will der Eigentümer verkaufen oder umbauen, müssen die Mieter raus. Die Rotterdamer nennen sich gern nüchtern, direkt und zupackend. „Du willst ein altes englisches Feuerschiff in den Hafen legen und darauf Partys feiern? Dann mach’s“, erklärt der Kellner des V11 die Einstellung der Stadtverwalter. Im Leuvehaven, einem der vielen innerstädtischen Hafenbecken, liegt zwischen Hausbooten, kleinen Jachten und schwimmenden Hostels ein knallrotes eisernes Schiff. Ein paar Enthusiasten haben es vor Jahren in England gekauft, nach Rotterdam gebracht und in ein Pub umgebaut. Unter Deck gibt es eine Theke, Sitzbänke, Sessel und eine Tanzfläche.

Restauriert. Die SS Rotterdam, das letzte in der Stadt gebaute Passagierschiff, wurde liebevoll restauriert.
Restauriert. Die SS Rotterdam, das letzte in der Stadt gebaute Passagierschiff, wurde liebevoll restauriert. (c) holland.com

„Solange sich niemand beschwert, kannst du hier fast alles machen“, sagt Architektin und Tourguide Anneke. Sie zeigt Häuser, die in den deutschsprachigen Ländern keine Genehmigung bekämen. Ein Bauherr hat ein fünf Meter schmales Häuschen auf Stelzen über einen Parkplatz gesetzt. Ein anderer wohnt in einem Kasten, der auf Stahlträgern zwei Bürogebäude verbindet. Ein Dritter, der ein Grundstück suchte, baute sein wie Glas glitzerndes Hochhaus auf ein zum Abbruch vorgesehenes Kaufhaus von 1948. Was nicht passt, wird passend gemacht. Nicht umsonst zählt Lonely Planet Rotterdam neuerdings zu den zehn sehenswertesten Orten der Welt.

Tipp

Rotterdam-Info: Coolsingel 195 und im Hauptbahnhof Centraal Station
https://en.rotterdam.info
rotterdamwelcomecard.com

Simone Gorosics Blog:nach-holland.de

Architektouren: Keine andere europäische Stadt versammelt auf so kleiner Fläche so viele ausgefallene Beispiele moderner Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts, vom Wiederaufbau nach 1945 bis heute. Hier lohnt sich eine von Experten geführte Architekturtour. Anbieter: Architour (auf Deutsch) des europaweiten Netzwerks Guiding Architects: architour.nl/architektur-fuehrungen-holland

Office for Metropolitan Information OMI: Schiekade 205, omirotterdam.nl, die Touren unter http://urbanguides.nl

Markthalle (Markthal): Die größte überdachte Markthalle der Niederlande beherbergt rund 100 Lebensmittelstände, 15 Food Shops und acht Restaurants. Von frischem Brot, Käse, Fisch und Geflügel bis hin zu Blumen und Pflanzen findet sich hier alles unter einem Dach. In einem weiten Bogen wölbt sich eine bunt bemalte Decke über die Halle. In der Hülle liegen mehr als 200 Wohnungen und Büros. Darin wohnen und arbeiten die Leute mit Blick auf das Marktgeschehen. Preiswerter als in der Halle kauft man dienstags und samstagvormittags auf dem ganz normalen Markt vor der Halle ein.

Lijnbaan: Europas älteste Fußgängerzone, die in ihrer Grundstruktur immer noch so aussieht wie nach ihrer Gründung 1948.

Van-Nelle-Fabrik: Etwas außerhalb liegt die 2014 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärte Van-Nelle-Fabrik. 1925 bis 1931 bauten die Architekten J. A. Brinkman und L. C. van der Vlugt hier die damals modernste Fabrik im Bauhausstil. Van Nelleweg 1, vannellefabriek.com

Hafenrundfahrt: Eine 75-minütige Tour durch den größten Hafen Europas auch auf Deutsch bietet Spido: http://spido.nl/de

Museums- und Hotelschiff SS Rotterdam: Liebhaber haben das letzte in den Niederlanden, 1957 bis 1959 gebaute Passagierschiff SS Rotterdam mit Unterstützung der Stadt originalgetreu restauriert. Ehemalige Besatzungsmitglieder führen über das Schiff, auf dem auch Tagungsräume, ein Restaurant und ein Hotel mit 254 Kabinen untergebracht sind. http://ssrotterdam.com

Compliance-Hinweis: Die Recherche wurde unterstützt von Rotterdam Partners und vom Niederländischen Tourismus- und Kongressbüro NBTC.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.