Die Stadt, die nie das ist, wofür man sie hält

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Holland. Pioniergeist, Gedankenfreiheit, Verantwortungsbewusstsein und Kreativität haben Amsterdam groß gemacht.

Was fällt Ihnen spontan zu Amsterdam ein? Grachten und Tulpen? Hasch und Rotlichtdistrikt? Anne Frank und Diamanten? Rembrandt und das Goldene Zeitalter? Wo immer Ihre Assoziationen Sie hinsteuern, sie führen möglicherweise in die Irre. Denn die Stadt ist vieles, aber nie genau das, wofür man sie hält. Mit 1,2 Mio. Einwohnern (Großamsterdam) größte Stadt der Niederlande, ist sie zwar Hauptstadt, regiert wird aber im 60 Kilometer entfernten Den Haag, wo das Parlament tagt und der König residiert. Für offizielle Anlässe bedient sich das Königshaus aber gern seines Palastes am Dam. Von da aus winkte der neu gekrönte Willem-Alexander einem weltweiten Publikum zu. Dass er dies vom Balkon des Stadthauses aus tat, wussten wohl die wenigsten. Als solches ist das Paleis op de Dam aber im 17. Jahrhundert gebaut worden und so steht es bis heute ohne Schranken unter den Bürgern seiner Stadt.

Was ist von einer Stadt zu halten, die einst die Weltmeere beherrscht hat und in deren Kanälen Süßwasser fließt? Deren Universität und Sexgewerbe sich das gleiche Quartier teilen? Die berühmt ist für ihre Hoch-, fast mehr aber noch für ihre Subkultur? Was von einem radelnden Seefahrervolk? Kommt noch dazu, dass selbst geübten Reisenden die geografische Orientierung in Amsterdam nicht immer auf Anhieb gelingt.

„Wir haben uns verlaufen“

Die Beschilderung in einer Stadt, deren Bürger das Navigieren seit Jahrhunderten im Blut haben, lässt zu wünschen übrig. Und so trifft man allenthalben auf hilfesuchende Touristen und deren „We got lost“, „Wir haben uns verlaufen“, „Qn s'est perdus“. Um der Stadt auf die Schliche zu kommen, bietet sich das Amsterdam-Museum an. Sein Slogan lautet nicht umsonst „Ihr Zugang zu Amsterdam“. Es macht die Besucher vertraut mit der tausendjährigen Stadtvergangenheit, nimmt sie mit auf eine abenteuerliche Reise vom Mittelalter in die Gegenwart und ortet vier Stützen für die Amsterdamer Erfolgsgeschichte: Pioniergeist, Gedankenfreiheit, Verantwortungsbewusstsein und Kreativität.

Damit ließe sich freilich überall etwas anstellen. Entscheidend ist deshalb, was die Amsterdamer aus ihren geistigen Rohstoffen gemacht haben. Das illustrieren Animationen und Hörstationen. Sie zeigen, wie man dem Meer Land abrang, die Stadt auf Millionen von Pflöcken befestigte, wie aus der mittelalterlichen Klein- eine neuzeitliche Planstadt wurde, die vor allem einem Zweck diente: den Handel möglichst reibungslos zu gestalten. Denn 1602 war die Ostindienkompanie gegründet worden, die nun selbstbewusst die Weltmeere besegelte und bald zur größten Handelsmacht dieser Zeit wurde.

Sich mit fremden Kulturen arrangieren

Gehandelt wurde mit Gewürzen, Tee, Kaffee, Porzellan, Gold, genauso wie Opium und Sklaven: einfach mit allem, womit sich Geld verdienen ließ. Erfolgreich befolgte man eine Art von Form follows function. Das galt nicht nur für den Städtebau, sondern auch für das gesellschaftliche Zusammenleben. Denn wer wie die Niederländer auf Weltmeeren zu Hause ist, muss sich zwangsläufig mit fremden Kulturen auseinandersetzen und arrangieren. Bald schon wurden in Amsterdam Bücher gedruckt, die sonst verboten waren. Menschen fanden Zuflucht, die anderswo verfolgt wurden. Gedanken- und Glaubensfreiheit konnten sich entwickeln, solange sie nicht mit den Überzeugungen des Frühkapitalismus kollidierten. Aus diesem Geist entwickelte sich die Kunst des 17. Jahrhunderts. Das Gouden Eeuw – Goldene Zeitalter – brachte eine Kultur hervor, die einzigartig war im damaligen Europa und die bis heute spürbar ist: keine vergeistigte, sondern eine bodenständige, handfeste, greifbare.

Es sind Alltagsthemen, die in den Fokus der Malerei rücken: Menschen bei der Arbeit, Seefahrt, Landschaften, dekorative Stillleben, aber auch deftige Wirtshaus- und Bordellszenen und das Gruppenbild, das sich in Amsterdam auf die Darstellung von Gilden und Bürgerwehren spezialisiert. Das sind zumeist düstere Porträts von Männern in schwarzer Kleidung mit weißer Halskrause, Verantwortungsträger, die in der Stadt für Recht und Ordnung, aber auch für Bedürftige gesorgt haben.

Das Rijksmusem ist der Ort, diesem Zeitalter nachzuspüren, und Rembrandts „Nachtwache“ der Magnet der Sammlung. Bis heute faszinieren Kapitän Cocq und seine Mannen das Publikum, das sich hier aus der ganzen Welt versammelt. Da sind selbst gegnerische Fußballfans einträchtig beieinander, die sich für die Europa League eingefunden haben und feststellen, dass Rembrandts Meisterwerk eine Liga für sich ist.

Was für Farben! Was für Kontraste!

Unweit des Reichsmuseums befindet sich die Van-Gogh-Stiftung. Täglich stehen die Kunstpilgernden draußen Schlange. Drinnen sitzen derweil die kleinsten Kunstfreunde vor ausgewählten Bildern. Eine Kindergartentruppe unterhält sich gerade mit Vincent van Gogh, der ihnen als schrullige Handpuppe, gekonnt geführt von der Kunstpädagogin, Fragen stellt. „Was ist das für eine Blume?“ „Sonnenblume!“, tönt es unisono. Auf die Frage, ob sie noch mehr sehen wollen, erschallt ein begeistertes „Jeee!“ – und auf geht's zum nächsten Werk.

Der Enthusiasmus überträgt sich auch auf ältere Besucher – „Was für Farben!“, „Welche Kontraste!“ –, weicht allerdings bei den Arme-Leute-Porträts im oberen Stockwerk einem betretenen Schweigen. Nun sind es die Gebeugten und Gebeutelten, die reden, jene Zeitgenossen, mit denen van Gogh zeitweise gelebt und gelitten hat. Sie sprechen für all die Armen, die um 1900 Amsterdam bevölkert haben, als die verpasste Industrialisierung verspätet erfolgt und mit Ausbeutung einhergegangen ist.

Damals lebte der Großteil der Bevölkerung in engen und ungesunden Verhältnissen. Einen Aufschwung brachte die Neutralitätspolitik des Ersten Weltkriegs. Eine Strategie, die man im zweiten großen Krieg erfolglos zu fahren suchte. 1940 besetzten die Deutschen Amsterdam. Es ist eine traurige Tatsache, dass ausgerechnet in dieser Stadt, die sich als einzige mit einem Generalstreik gegen die Diskriminierung von Juden wehrte, prozentual am meisten durch die Nazis umkamen – an ihr Schicksal erinnert bis heute das Anne-Frank-Haus. Wer Amsterdam sagt, muss auch Hippies und Koffieshops sagen.

Vorbereitet durch Provo, jene gewaltfreie, kreative Studentenbewegung der 1960er-Jahre, traf die Hippiekultur hier auf ideale, da liberale Bedingungen. Für Schlagzeilen sorgte 1968 zudem John Lennons und Yoko Onos Bed-in. Vom Bett seiner Hotelsuite aus warb das Paar für Frieden – und indirekt für Amsterdam. Aus jener Zeit stammen die Coffeeshops, in denen heute noch Entspannung findet, wer dazu einen Joint braucht. Und es wäre nicht Amsterdam, stünde für diese Kulturerrungenschaft nicht die passende Ausstellung bereit: im Hashmuseum.

Es ist schließlich ein Kaufmannshaus an der Herengracht, das gleichsam den Amsterdamer Esprit kondensiert: das Tassenmuseum Hendrikje. Doch aufgepasst! Taschen sind es, die seit 2006 ausgestellt sind. Pioniergeist, Verantwortungsgefühl und die Kreativität der über 4000 Objekte haben das Museum in kurzer Zeit zum größten seiner Art gemacht. Und die freien Gedanken? Die lassen sich nicht davon abbringen: Beim Anblick der berühmten Törtchentasche aus „Sex and the City“ schweifen sie direkt zum Museumskaffee, wo die echten Torten auf die Besucher warten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.04.2016)

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