Karwendel, die retronative Schatzkiste

Schwaz in Tirol
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Der Naturpark Karwendel ist mit 730 Quadratkilometern der größte Naturpark Österreichs – und enorm abwechslungsreich.

Schwaz. Es ist eigentlich schade, die Inntalautobahn entlangzufahren und von den Schätzen rechts und links, also nördlich und südlich davon, nichts mitzubekommen. Dabei gibt es in den zwölf Gemeinden der Silberregion Karwendel östlich von Innsbruck zwischen Jenbach und Kolsass so viel „retronative“ Abwechslung, gleich nebenan! Retro, weil die Gegend ihre Wurzeln kennt. Nativ, weil sie ursprünglich ist. Und innovativ, weil sie offen ist für Neues.
Zu so viel Natur- und Regionalbewusstsein passt naturgemäß auch ein Biohotel. Das Grafenast in Pillberg von Waltraud und Peter liegt auf 1330 Metern unterhalb des Kellerjochs. Der Blick aus dem Bett, von der Terrasse, aus dem Restaurant reicht bis nach Innsbruck. Das Inntal liegt einem zu Füßen. Ruhe kehrt ein. „Sich selbst in Einklang bringen – mit uns, den anderen, dem Leben“, beschreibt Peter Unterlechner , was er unter Urlaub versteht, „mit allen Sinnen und mit Sinn“. Um die Sinne für die Umwelt zu schärfen, pflegen Unterlechners beim Check-in ein Ritual. Jeder Gast bekommt eine Zirbenholzkugel, die er dann – je nach Art der Anreise – in ein Gefäß wirft. Flugzeug, Bahn, Auto oder gar CO2-neutral? Derart eingestimmt fragt man auch gar nicht, warum es im Zimmer keinen Fernseher gibt – dafür gibt es wunderbare gemeinsame Kinoabende mit den Gästen –, und auch kein WLAN (Schutz vor Elektrosmog), dafür reichlich traumhafte Ausblicke und kulinarische Entschädigung, sodass man Glotze und Internet getrost vergessen kann.

Jurtensauna mit Inntal-Blick

Genuss und Entschleunigung kommen dann von ganz allein. Dazu gibt es belebtes und aktiviertes frisches Wasser aus der hauseigenen Quelle. Außerdem bekommt der Gast eine Abenteuer-Schatzkiste mit Booklet, Wanderkarte und vielen Hinweisen zu allem, was es in der Umgebung zu entdecken gibt. Die Kiste kann dann, bewusst und achtsam, mit Fundstücken und Urlaubserinnerungen befüllt werden. Zum Beispiel mit einem Zapfen aus dem Wäldchen, in dem die „Jurtensauna“ steht: auf zwei Etagen, kreisrund aus Holz und Lehm und mit Panoramafenstern mit Blick das, richtig, das ganze Inntal hinunter.

Über 354 Stufen durch die Klamm

Die Wolfsklamm und das darüberliegende Wallfahrtskloster St. Georgenberg bei Stans sind schöne Beispiele für das Retronativ-Konzept der Region. Retro: Es gibt Plätze, die eine ganz spezielle Ausstrahlung haben. Das sagt man auch vom Georgenberg, dem ältesten Wallfahrtsort in Tirol. Nativ: Die Route zum Felsenkloster führt durch die beeindruckende, erfrischende Wolfsklamm, vorbei an tosendem Wasser, über 354 Stufen, Holzstege und in Fels geschlagene Galerien. Innovativ: Hundert Prozent Einkehr gibt es in St. Georgenberg, einem Ausflugsziel für Entschleunigung. Pater Raphael, Prior der Benediktinerabtei, zeigt, wie man den Alltagsrhythmus durchbricht. Nachtwallfahrten oder Schweigeseminare ermöglichen vertiefende Erfahrungen.

Natur, Tradition und Moderne kombiniert Robert Winderl äußerst erfolgreich in Weerberg als „Knospenmacher“. Knospen werden Holzschuhe im Volksmund genannt. Robert führt die Holzschuherzeugung schon in vierter Generation. Das Schuhwerk, früher Arbeitsschuh, heute trachtiger Trendsetter, ist international begehrt. „Gäste bestellen im Frühjahrsurlaub ihr ganz individuelles Modell und holen es dann im Herbst ab.“ Mit rund drei Monaten Lieferzeit muss man rechnen. Jedes Produkt aus der Winderl-Werkstatt ist immer ein Einzelstück. 14 Farben und Sorten Rindsleder mit rein pflanzlicher Gerbung stehen zur Wahl. Die Sohle ist aus Ahornholz. Die hübsche Stickerei auf dem Riemen, zum Beispiel mit den Initialen, macht Ehefrau Moni. Wappen oder Wunschgrafiken brennt Roberts Neffe mit einem Laser ein. Jahrhundertealtes Handwerk pur – vom Laser abgesehen. Daneben gibt es in dem Laden auch Glocken, Schellen und Riemen, als Dekoration, Schmuck und nach wie vor fürs Weidevieh.
Talwärts und nicht weit entfernt gibt es ein spannendes Museum für Volksmedizin und (Aber-) Glaube: das Rablhaus. Einzigartig im gesamten Alpenraum. Der Glaube versetzt bekanntlich Berge, kaum ein Bereich des menschlichen Daseins ist so eng mit Begriffen wie Hoffnung und Glaube verbunden wie Krankheit und Siechtum. Die Heiligenapotheke war über Jahrhunderte fester Bestandteil des Leidens und Heilens. Dass auch Behandlungsformen wie Aderlass, Schröpfen oder die Anwendung des Klistiers inzwischen gängige schulmedizinische Verfahren darstellen, mag dabei schon weniger verwundern.

Regenwurmöl, Menschenblut

Auf unterhaltsame und zum Teil berührende Weise präsentiert das Rablhaus altes Heilwissen und Kurioses zur alten Volksmedizin. Viele Lebensmittel etwa verfügen über Heilkräfte, wie die Exponate in der Rauchküche des Museums bezeugen. Intime Einblicke in volksmedizinische Praktiken rund um Empfängnis, Potenz und Geburtenkontrolle gewährt die Schlafkammer. Der Garten liefert die Zutaten zur Kräuterapotheke, auch die Drogen- und Giftpflanzen. Und dass Regenwurmöl, Menschenblut und Schneckenschleim in der Medizin der Vergangenheit angehören, ist eine Fehlmeinung, wenn auch diese Bestandteile der „Drecksapotheke“ heute in veränderter Form verwendet werden. Handgeschriebene Heilerhefte und ein mehr als 300 Jahre altes Apothekerbuch zeugen von dem alten Wissen.

Ebenfalls altes Wissen, Handwerkswissen, machen sich zwei Männer an der Pillbergstraße zunutze. Ingenieur Dieter Kurz und Heilmasseur Ronny Knabl betreiben dort eine Fruchtkelterei. Verkostung sonntags ab 14 Uhr – sehr empfehlenswert, denn der hübsche Hof liegt direkt am Weg zum Hotel Grafenast und der Sonnenuntergang ist filmreif. Die beiden Schwazer wollten irgendwann ein regionales Naturprodukt kreieren, befassten sich akribisch mit Aromen, experimentierten mit Parametern der Vergärung wie in einem Labor. Vor allem Wildheidelbeeren verarbeiten sie: „Wir haben gesammelt wie verrückt“, sagt Dieter. „Fruchtweine sind anders als Traubenweine, haben andere Gesetzmäßigkeiten.“ Ein gutes Ergebnis gelingt nur „mit Liebe zur Natur und Detailtreue“. Und das schmeckt man.
Experimentiert wurde sogar mit Paprika – das begründet den Namen der Homepage: Paprikawein. Neues haben die beiden immer im Kopf. Und inmitten der Obstanlage auf 1100 Metern auch genug Freiraum für frische Gedanken.

HOLZSCHUHE, VOLKSMEDIZIN UND PAPRIKAWEIN

Empfehlenswerte Broschüren:
„Gehen & Sehen“ (Inntal & Tuxer Voralpen): Wanderungen auf besonderen Wegen und Tipps für perfekte Fotos. „Wandern in der Silberregion Karwendel“, 41 traumhafte Routen erhältlich im Tourismusverband, Münchnerstr. 11, Schwaz.

Schöner Spaziergang ab Grafenast: „6220 Schritte für die Seele – Weg der Sinne“ (ca. 3 km): Rundwanderweg mit Kunstwerken, Denkanstößen, Ruhepolen und Kraftquellen; Nachhaltigkeit suchen, innehalten, wahrnehmen.

Auf den Spuren des Silbers: Dem Silberabbau war es zu verdanken, dass sich die Stadt Schwaz im Mittelalter, nach Wien, zur zweitgrößten Stadt Österreichs entwickelte. Kostenlose

Stadtführungen vom 23. Juni bis 15. September jeden Donnerstag; www.schwazer-silberkunst.at
Zum Schwazer Wahrzeichen, der Burg Freundsberg, führen Wege ohne besondere Anforderungen, mit Einkehrmöglichkeit (www.freundsberg.com).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2016)

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