Der Klang des Canyons

Komponist, Pianist, Poet, Maler, Wanderer und Weltenbummler Romayne Wheeler (74 Jahre) und Gründer des Tarahumara-Hilfsfonds lebt im Rar´amuri-Dorf Retosachi im westlichen Hochland von Mexiko.
Komponist, Pianist, Poet, Maler, Wanderer und Weltenbummler Romayne Wheeler (74 Jahre) und Gründer des Tarahumara-Hilfsfonds lebt im Rar´amuri-Dorf Retosachi im westlichen Hochland von Mexiko.(c) Lisa Maria Hagen
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In Mexiko gibt es einen Ort, an dem die Zeit keine Spuren hinterlassen hat. Gemeinsam mit dem indigenen Volk der Rarámuri lebt dort der Pianist Romayne Wheeler. Einmal im Jahr spielt er Konzerte in Österreich und auf der ganzen Welt, um sein Dorf zu unterstützen.

Stille. So mächtig, dass die Ohren pfeifen. Hier gibt's keine Straßen, kein Hupen, keine Telefone. Nur Berge, die sich in die Tiefe stürzen, sich winden und wenden und die Canyons der Sierra Madre formen. Wer die Augen schließt, kann sie hören. Zwischen dem Pfeifen des Windes und dem Meckern der Ziegen, zwischen dem Murmeln des Wassers und dem Gesang der Vögel klingt die Stille. Einer hat versucht, diese Stille festzuhalten. Hat sie in Noten destilliert und variiert. Und schickt sie nun in die ganze Welt. Romayne Wheeler ist 74 Jahre alt und Pianist. Wanderer und Weltenbummler. Einer, der die größten Städte gesehen, die höchsten Berge bestiegen und die exotischsten Melodien gehört hat. Geboren in Kalifornien zog er mit seinen Eltern über den Kontinent und studierte später Musik in Österreich. Angekommen ist er erst in den Bergen der Sierra Madre Oriental im Nordosten Mexikos.

Ein schmaler Pfad führt zum Haus von Romayne Wheeler, das sich eng an den Steilhang des Tafelbergs schmiegt. Im Wohnzimmer geben riesige Glasfronten den Blick auf den Munérachi-Canyon frei. Fast fühlt es sich so an, als schwebe das Haus über den Bergen. Das alles sieht Romayne Wheeler, wenn er an seinem Flügel sitzt, seine Finger über die Tasten fliegen. Ab und zu kritzelt er neue Noten mit Bleistift auf das Papier. „Für mich ist die Musik das einzig Ewige, das wir in uns tragen“, sagt Wheeler, „Musik ist, was nach den Worten kommt, das, was uns alle verbindet und unserem Leben Sinn gibt.“

Inoffizieller Bürgermeister

Zusammen mit zwölf Familien wohnt Romayne im Dorf Retosachi. Verstreut stehen die Hütten und Häuser auf dem Tafelberg. In den vergangenen 35 Jahren hat sich Wheeler vom Fremden zu einer Art inoffizieller Bürgermeister gemausert und treibt im Dorf den Fortschritt voran. Wenn er erzählt, plätschert seine Stimme sanft dahin. Nur manchmal, wenn zum Beispiel Porfirio den schmalen Pfad in das Tal nicht ordentlich gesäubert hat, verhärtet sie sich. Romayne Wheeler ist ein groß gewachsener Mann mit sonnengebräuntem Gesicht, weißen Haaren und versonnenem Gang. Ganz anders als die Tarahumara mit ihren drahtigen Körpern und dem pechschwarzen Haar. Seit Jahrhunderten lebt das Volk in den Bergen der Sierra Madre. Ursprünglich waren sie in und um Chihuahua zu Hause. Doch als spanische Eroberer im 16. Jahrhundert dort Silberminen entdeckten und die Indios zur Arbeit zwangen, zogen sie sich tief in die Schluchten der Sierra zurück.

Anfang der Achtzigerjahre kam Romayne Wheeler zum ersten Mal nach Retosachi. „Als Musikologe, um die Musik der Rarámuri für die Musikhochschule in Wien aufzuschreiben, weil es damals sehr wenig indianisches Originalmaterial gab“, erzählt er. „Ich dachte, das wird nur eine vorübergehende Sache, aber ich habe mich diesen Menschen sofort verbunden gefühlt.“ Es habe ihn fasziniert, wie unabhängig die Tarahumara, hier auch Rarámuri genannt, von den Dingen leben, wie stark die Gemeinschaft ist, in der man alles teilt und niemals danke sagt, weil es selbstverständlich ist. Romayne Wheeler blieb. Er baute ein Haus und brachte seinen Flügel in einer einwöchigen, logistischen Mammutaktion nach Retosachi. Er versuchte, seinen Freunden den Zauber der Berge zu erklären, doch fand die Worte nicht. Also begann er, die Landschaft mit Musik zu beschreiben. Seitdem klingen seine Melodien über die Berge und verzaubern die Rarámuri bis auf die andere Seite des Canyons.

Der Vollmond steht über der Schlucht und füllt sie mit gleißend silbernem Licht. Aus einer der Hütten dringt Gitarrenmusik, immer wieder wiederholt sich dasselbe beschwingte Lied. Ein Rarámuri schläft niemals durch, sondern ruht und schwatzt und spielt und schläft und wacht. Bis die Sonne den Mond wieder verblassen lässt.
Wie so vieles in den Bergen wird auch das Musizieren von Generation zu Generation weitergegeben. Noch heute halten die meisten Rarámuri an ihrer traditionellen Lebensweise fest. Anfangs scheinen die Tage unendlich in dieser anderen Wirklichkeit. Kein Telefon, kein Fernseher, die nächste Stadt einen Tagesmarsch entfernt. Dieser Abgeschiedenheit verdanken die Rarámuri vermutlich ihren Namen: Rarámuri bedeutet die Leichtfüßigen, und mit ihrer Leichtfüßigkeit haben sie es als Ausdauerläufer zu internationaler Bekanntheit gebracht.

Sandalen aus Gummireifen

Im April flog der 33-jährige Rarámuri Arnulfo Quimares mit einer Zeit von drei Stunden und 38 Minuten über die Ziellinie des Boston Marathon. Wie alle Rarámuri benutzte er keine atmungsaktive Laufkleidung, keine Joggingschuhe oder Pulsuhr. Quimares lief die 42 Kilometer in seinen Sandalen aus Gummireifen und Lendenschurz. Und wie allen Rarámuri war ihm sein Leben in den Bergen Training genug. Bereits mit sechs Jahren laufen viele Kinder mehrere Stunden täglich in das nächste Dorf, um dort die Schule zu besuchen. Zum Großeinkauf wandern die Frauen einen Tag lang in das Tal nach Batopilas und klettern am Tag schwer bepackt zurück nach Retosachi.

Es ist sieben Uhr morgens, die Sonne schiebt sich träge über die zackige Bergkrone. In der Ferne treiben die Frauen ihre Ziegen auf das Feld. Aus dem Schornstein über Romayne Wheelers Küche steigt Rauch, von drinnen dröhnt Gelächter. Seine Nachbarn sitzen um den Holztisch und schaufeln Bohnen auf ihre Tortillas. Immer wieder wechseln sie zwischen Spanisch und Rarámuri, während sie die jüngsten Ereignisse diskutieren: Bürgerversammlung im Nachbarort, Elternsprechtag in der Schule und noch immer kein neuer Arzt, seit die Krankenschwester in den Schwangerschaftsurlaub gegangen ist. Romayne steht am Herd, brät Schinken, summt und lächelt.

Kaum ein Fremder verirrt sich je nach Retosachi. Fast zehn Autostunden ist der nächste Flughafen entfernt. Für die Rarámuri bedeutet die Abgeschiedenheit vor allem auch Vergessenheit. „Die Hilfe der Regierung reicht meist nur bis zum Ende der Asphaltstraße“, sagt Wheeler, während er Teller abwäscht. Unterernährung, Hunger und eine hohe Kindersterblichkeit sind nur einige der Probleme, mit denen die Rarámuri kämpfen. Hilfe bis nach Retosachi zu bringen sei zeit- und kostenintensiv.

Romayne und Romayno

Wheeler wollte selbst etwas tun und gründete die Stiftung „Der Pianist der Sierra Rarámuri“. Seitdem gibt er weltweit Benefizkonzerte, deren Erlös an die Stiftung geht. Mit dem Geld haben Wheeler und die Rarámuri eine Notfallklinik, eine Grundschule und ein Internat in Retosachi gebaut. Einmal, erzählt Wheeler, habe eine 14-jähriger Bub seine hochschwangere Freundin vier Stunden bis in die Notfallklink getragen. Draußen wütete ein Sturm. Der Kopf des Kindes schaute schon heraus, aber das Kind wollte einfach nicht durch das schmale Becken seiner jungen Mutter passen. Erst am nächsten Tag konnte ein Hubschrauber in Retosachi landen und brachte das Paar nach Chihuahua, wo das Mädchen einen gesunden Jungen zur Welt brachte. „So zäh sind nur die Rarámuri“, sagt Wheeler.

Romayne Wheeler steht neben Luisi Gutiérrez, dem Grundschullehrer von Retosachi, und schaut den Kindern hinterher. „Durch unsere Stipendien können, aber müssen sie nicht in die Fußstapfen ihrer Eltern treten“, sagt Romayne, „wenn sie nach der Grundschule weiterlernen wollen, unterstützen wir sie, damit ihre Zukunft vom Ziegenhirten bis zum Kinderarzt keine Grenzen kennt.“
Einer der Stipendiaten ist Romayno Gutiérrez, Wheelers Patenkind. Mit sechs Jahren lief er jede Woche zwölf Stunden in das Internat und sah seine Familie nur am Wochenende. Dann verbrachte er unzählige Stunden am Flügel seines Paten. Heute lebt er mit seiner Frau in Chihuahua und studiert Musik an der Universität. „Romayne ist wie ein zweiter Vater für mich. Als Musiker ist er mein Lehrer und Vorbild. Alles, was ich kann, hat er mir gezeigt, und alles, was ich habe, verdanke ich ihm. Ohne ihn wäre ich heute nicht hier“, sagt Gutiérrez. „Romayno ist der erste indigene Pianist weltweit“, sagt Wheeler stolz. Seit einigen Jahren begleitet Romayno seinen Paten auf Konzertreisen in der ganzen Welt. Dann spielen sie vierhändig Melodien vom Flug des Kolibris, von Nieselregen und dem Sonnenaufgang in einer Schlucht vor unserer Zeit.

Versteck im HOCHLAND

Tarahumara Relief Fund. Wer mehr über die Stiftung „Der Pianist der Sierra Madre“ erfahren oder für die Rarámuri spenden möchte, kann das im Internet unter http://romaynewheeler.org.mx/

Anreise: mit Air France via CDG und MEX nach Los Mochis (LMM, ca. 1000 Euro hin und retour ab Wien). Dort nimmt man den Chepe, einen Touristenzug, der durch die Kupferschlucht über Creel bis nach Chihuahua fährt.

Pauschal: Best4Travel bietet ab Herbst eine neue Kupferschlucht-Fünftagestour ab zwei Personen. Neu ist auch eine neuntägige Baja-California-Tour. www.best4travel.at

(Print-Ausgabe, 12.11.2016)

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