Hinter den Kulissen des Diktators

(c) Jutta Sommerbauer
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Das ist Bukarest: Ein Taxifahrer, der Straßen fürchtet. Ein Kunstaktivist, der im einstigen Herrscherhaus von Ex-Diktator Nicolae Ceauşescu sitzt. Und ein Mathematiker, der Hochhäuser fällen will.

Mit seiner Tochter, für die er das alles hier tut, hat er seit vier Tagen nicht mehr gesprochen. Er hat sie nur noch schlafend gesehen, in ihrem Bettchen liegend, in der Wohnung im ersten Stock des Plattenbaus.

Fünf Monate ist sie jetzt alt, doch wenn das so weitergeht mit seiner Arbeit, dann wird er noch alles verpassen: Wie die Kleine zu krabbeln anfängt, wie sie ihre ersten Wörter sagt, wie sie zu gehen beginnt. Denn Alex Mihailescu ist fast nie zu Hause. Er ist auf den Straßen von Bukarest.

Alex Mihailescu ist Taxifahrer. Nicht aus Leidenschaft, nein. Wie sehr er diesen Moloch von Stadt hasst. Die Automassen. Die vielen Menschen. Die verwilderten Parks. Das Geschrei der Stadt, das ihm in seinen Ohren liegt, selbst wenn er spätabends zu seiner Familie zurückkehrt. Das Taxifahren ist ja nicht mal sein richtiger Job, wie der 25-Jährige in einer Mischung aus Bedauern und Unzufriedenheit sagt.

Aber da ist eben „das kleine Mädchen“. So nennt er seine Tochter. „Das kleine Mädchen“ ist schuld daran, dass er an diesem grauen Morgen in seinem dottergelben Taxi mühsam den Stadtplan entfalten muss, weil er die Straße nicht kennt, in der sich das gewünschte Hotel befindet; warum er über die sechsspurigen Boulevards donnern muss, um fünf Minuten später wieder fluchend im Stau zu stecken; warum er sich auf den engen Schleichwegen hinter Nicolae Ceauşescus Prachtbauten seinen Weg bahnen muss, nach links, rechts, wieder nach rechts, als suchte er einen Ausgang aus einem Irrgarten.

Dass sie Schuld daran ist, würde er selbst niemals so sagen. Eher: ihretwegen. Sie ist der Grund dafür, dass er, Mihailescu, ein adretter junger Mann im feinen weißen Hemd mit blauen Karostreifen, darüber ein grauer Wollpullunder, nicht mehr hinter seinem Schreibtisch sitzt. Hinter seinem Schreibtisch im Grundbuchamt. Ein guter Job, nur leider zu schlecht bezahlt. Deshalb ist er, als seine Frau die Tochter gebar, offiziell in Karenz gegangen, bekommt einen Teil seiner mickrigen Bezüge weiterhin ausgezahlt und sitzt in jeder freien Minute im Taxi.

In der Unterführung unterhalb des Unirii-Platzes geht es nicht mehr weiter. Mihailescu kennt das. Stau. Wie jeden Morgen. Die Piata Unirii ist das Herzstück von Ceausescus in den 1980ern aus dem Boden gestampften Stadtteil „Centrul Civic“: ein riesiger betonierter Platz, der heute für den explodierenden Verkehr nicht mehr als ein Nadelöhr ist.

Nach der Wende sind die Menschen aus der Provinz hergekommen, um in der Stadt zu leben. „Und jetzt wollen sie nichts wie weg von hier.“ Mihailescus Lachen klingt bitter. Schließlich ist es genau das, was auch er will. Seine Exitstrategie, sein Plan. Ein Plan, aus dem bis jetzt nichts geworden ist.

Er ist ein richtiger Hauptstädter. Aufgewachsen in einer Stadt, die vor zehn Jahren noch viel gemütlicher, viel leiser, weniger voll mit Autos war. Wie gern würde der Jungvater die Stadt verlassen, sich ein Haus im Umland kaufen. „Ich habe eine Familie“, sagt er verblüfft, wenn man ihn fragt, ob ihm nicht doch etwas an der rumänischen Hauptstadt gefalle. „Finanziell bietet die Stadt Vorteile, ansonsten ist es schrecklich.“ Zum Abschied verrät er einen zweiten Wunsch: ein GPS. Damit würde das Chauffieren ein wenig einfacher.

Stachel im Fleisch. Orientierungsprobleme hat Cosmin Ţapu nicht. Zumindest nicht von hier aus. Auf dem hinteren Herrschaftsbalkon in Ceauşescus Volkspalast ist die Luft klar, die Stadt liegt einem zu Füßen, auf Distanz gehalten von kilometerlangen Mauern, hinter denen Grün wuchert. Von hier aus erscheint Bukarest wie ein träges, weiß-graues Häusermeer. Gemächlich. Ruhig. Leicht zu beherrschen. Cosmin Ţapu ist Mitarbeiter des Museums für Zeitgenössische Kunst, das im Hinterteil des größten Gebäudes Europas untergebracht ist. Der rumänische Diktator ließ es von 1983 bis 1989 erbauen.

Das „Haus des Volkes“, in dem heute Parlament und Senat untergebracht sind, überblickt die ganze Stadt. Doch das Kunstmuseum findet nur, wer wirklich danach sucht. Keine Schilder, keine Beschriftung am Gebäude weisen den Weg. Am Eingang des Areals empfängt ein Wachmann argwöhnisch die Besucher, im Inneren ist eine Sicherheitskontrolle zu passieren.

„Wer hat da noch Lust, ins Museum zu gehen?“, fragt Ţapu anklagend, ein zierlicher 30-Jähriger mit blauem, zugeknöpften Poloshirt, dem sein schwarzes Haar in die Stirn bis knapp über die Augen fällt. Die Frage nach dem Ort, sie nervt Tapu. Viele haben sie schon gestellt, zu viele. Nun ist man selbst nicht mehr davon überzeugt, ob es richtig war, das Angebot der damaligen Regierung im Jahr 2004 anzunehmen. Eine billige Lösung für die Politik, ein paar neue Bewohner für das „Horrorhaus“, wie Ţapu es nennt, dessen Fläche nur zu sechs Prozent genutzt wird. Man könnte es für eine brillante Idee halten: eine Kunstsammlung im Palast des totalitären Herrschers. Wäre da nicht die chronische Unterfinanzierung. „Wir sind hier der Stachel im Fleisch“, sagt Ţapu bestimmt.


Pjöngjang als Vorbild. Am 4. März 1977 bebte in Bukarest die Erde. Große Teile der Stadt lagen in Trümmern. Ceauşescu fühlte sich nach dem Erdstoß nicht länger sicher. Er wollte eine neue Stadt errichten lassen, eine erdbebensichere sozialistische Metropole sollte aus dem Gewirr von Straßen und Baustilen entstehen. Ein Besuch in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang hatte ihn beeindruckt. „Ceauşescu hatte Angst vor der Stadt“, sagt Andrei Pandele, Fotograf und in den späten 90ern Bukarester Stadtarchitekt.

In den Achtzigerjahren ließ der „Conducator“, der „Führer“, ein Fünftel der alten Innenstadt Bukarests abreißen und Hügel planieren, zwischen den neuen, mit neoromanischem Stuck verzierten Hochhäusern wurden breite Boulevards geschlagen. „Potemkinsche Dörfer“ nennt Pandele die Prachtbauten, die den Unirii-Platz säumen, die sich den Unirii-Boulevard drei Kilometer bis zum Alba-Julia-Platz hinziehen.

Das Leben der Bewohner wurde hinter die Fassaden der Wohnblocks verbannt. Hinter deren Kulissen. In die Hinterhöfe, die kleinen Gässchen im Schatten der Neubauten. Die noch nicht plattgewalzten Kirchen ließ Ceauşescu auf Rollplattformen versetzen. Damit sie nicht stören würden. Damit sie sein Blickfeld nicht stören würden.

Pandele, heute 65, hat die Zerstörungswut von damals festgehalten. Aufgenommen, heimlich, mit seiner Kamera. Er arbeitete damals als Sportfotograf, da musste man schnell sein, das half. Die Negative versteckte er zu Hause, nach der Wende ließ er die Bilder entwickeln: Sie zeigen Menschen im Niemandsland der Abrissbirne. Menschen, die über Fußballfelder voller Schlamm, die damaligen Baulücken, stapfen. Menschen, die vor den Ruinen ihrer Häuser stehen.

Der große Mann im dunklen Stoffjacket zieht auch heute noch mit seiner Kamera durch die Straßen. Im Lipscani-Viertel, der einzigen Erinnerung an das Handelsleben des 18. Jahrhunderts, läuft Andrei Pandele zwei Arbeitern nach, die eine Glasscheibe durch die Straßen tragen.

Im Leipziger Viertel wird seit geraumer Zeit wieder gebaut. Renoviert. Eine Bar nach der anderen hat aufgemacht. Sie tragen Namen wie „Old Town Pub“, „Les Bourgeois“ und „El Dictador“, schenken Caffè Latte und Cocktails aus, und am Samstagabend quälen sich die Jugendlichen in den Gassen durch einen Kordon aus Stühlen und Tischen. „Shitty Bars“ hat der kunstbeflissene Cosmin Ţapu diese Lokale abfällig genannt, und damit vor allem jene Party Crowd gemeint, unter die sich immer mehr Touristen und Jugendliche mischen, die nicht wegen der Szene herkommen, sondern des Biers wegen.

Viele der alten Werkstätten und Krämerläden im Leipziger Viertel müssen zusperren. Die Mieten sind in die Höhe geschnellt. Die Häuser, im Sozialismus nationalisiert, wurden den Eigentümern zurückgegeben. Ihren Eigentümern? Pandele schüttelt den Kopf. „Irgendjemand besitzt sie jetzt“, sagt er. Mit einem vehementen Telefonanruf könne ein Besitzer, der gar nicht verkaufen wolle, umgestimmt werden, so einfach sei das.

Seinen Job als Stadtarchitekt hat Pandele vor ein paar Jahren hingeschmissen. „Weil ich nichts verändern konnte.“ Wo einst die Partei regierte, regiert heute das Geld der früheren Parteibonzen, die sich Investoren nennen.


Schutzlose Stadt. Gegen die Investoren zieht auch Nicusor Dan zu Felde. Zumindest gegen jene, die den Altbaubestand der Stadt zerstören. Der Mathematiker ist Mitgründer der Nichtregierungsorganisation „Save Bucharest“. Ein 40-Jähriger mit hochgebundenem schwarzem Rastazopf, der um den Bestand seiner Stadt fürchtet. Der unkonventionelle Traditionalist sorgt sich um Grünflächen, die verbaut werden. Um Hochhäuser, die in Denkmalschutzgebieten hochgezogen werden. Um Stadtvillen, die eigentlich geschützt werden müssten, jedoch absichtlich vernachlässigt werden, sodass sie abgerissen werden können, um einem Neubauprojekt Platz zu machen.

Wenn Dan durch die alten bürgerlichen Viertel der Stadt spaziert, schnellt sein Arm mal nach links, mal nach rechts. Hier, wieder ein kühner Neubau, der um sieben Meter zu hoch projektiert wurde. Dort, ein 13-stöckiges Ungetüm, dessen Bau man gerichtlich gestoppt habe. Hätte seine Organisation mehr Geld und Kapazitäten, würde sie noch viel mehr Prozesse anstrengen, sagt Dan. Die Architektur der neuen Zeit nennt er „autistisch“. Dan will etwas tun, das einfach klingt, aber in Bukarest fast unmöglich ist. Etwas, das viele schon aufgegeben haben. Er will hier einfach nur leben.

854

Kilometer ist Wien von Bukarest entfernt.

1,95

Millionen Einwohner hat Bukarest, es ist in der EU nach Paris und vor Frankfurt die sechstgrößte Stadt.

1459

wurde die Stadt erstmals urkundlich erwähnt, in einem Papier von Fürst VladIII. (Beiname: „Draculea“). Er ließ zehntausende Feinde, meist Türken, pfählen.

1659

wird Bukarest Hauptstadt der Walachei und 1861 des Staates Rumänien.

1977

verwüstet ein Beben Bukarest, viel alte Bausubstanz geht kaputt. Diktator Ceauşescu lässt das Zentrum neu bauen und mit Prachtbauten spicken.

365

Tausend Quadratmeter umfasst das Parlament, das zweitgrößte Verwaltungsgebäude der Welt. Darin sind 150.000 Glühlampen.

97

Prozent der Bewohner sind Rumänen, der Rest v. a. Roma, Rumäniendeutsche, Ungarn, Bulgaren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2010)

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