Moldawiens große Aprilrevolution

(c) AP (JOHN MCCONNICO)
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Kischinjow: die Hauptstadt Moldawiens, in der sich fast alle als Rumänen fühlen. Ein Videokünstler, der sie für abgefuckt hält. Ein Romancier, der hier einen Dschungel wähnt. Und eine schwer rauchende Dramatikerin.

Ist man ein österreichischer Patriot, sollte man Debatten mit Intellektuellen aus Kischinjow (Chişinau) meiden. Viele Vertreter dieser dünnen Schicht glauben so wenig an ihr Land, dass man sich in die österreichische Zwischenkriegszeit versetzt vorkommt. Im Unterschied zur breiten Bevölkerung sind viele Kischinjower Intellektuelle für den Anschluss Moldawiens an Rumänien. Sie beginnen die Diskussion immer so: „Was brauchen wir einen Staat, wenn wir keine eigene Sprache haben? Wir sprechen Rumänisch, also sind wir Rumänen.“– „Tschuldigung“, empöre ich mich, „ich bin Österreicher, spreche Deutsch und will mich nicht an Deutschland anschließen.“ – „Das kann man nicht vergleichen.“ – „Kann man sehr wohl!“

Man könnte noch hinzufügen, dass man in Kischinjow mehr Russisch als Rumänisch hört. Man ist aber besser still. Der Österreich-Vergleich kommt immer ganz schlecht an.

Kischinjow ist eine grüne, südlich anmutende, angenehme Stadt; sanft gewellte Weinberge schmiegen sich an die Wohnblöcke des Stadtrands. Ich will Nicoleta Esinencu kennenlernen. Die junge Dramatikerin wurde mit dem Stück „Fuck you, Eu.ro.Pa!“ berühmt, die ebenso zärtliche wie tabulose Rede einer Moldawierin an ihren Vater wurde quer durch Europa gespielt. Nur in Moldawien wurde der Titel verboten, kurz darauf wurde auch das umbenannte Stück abgesetzt.

Faul, ungebildet und frivol. In einem Porträt ihrer Heimatstadt zitiert Nicoleta Esinencu einen russischen Gouverneur, der die Kischinjower vom Anfang des letzten Jahrhunderts folgendermaßen beschrieb: „,Sehr faul, leichtgläubig, frivol, ungebildet, und ständig fielen sie auf die Knie.‘ Ich frage mich: Warum sollte ich ihm nicht glauben, was er schreibt? Aus dem einfachen Grund, weil er ein Russe ist?“

Nicoleta, casual bis nachlässig gekleidet, starke Raucherin, empfängt mich in der Kellerbar des Theaters, wo sie ihre Sachen selbst inszeniert. Sie erzählt, dass sie häufig ins Ausland zu Stipendien eingeladen wird, heuer nach Krems, wo sie über ihre in der Haftanstalt Stein einsitzenden Landsleute schrieb. Zuhause werde sie nicht mehr gespielt. Wenn sie Kischinjowern auf der Straße begegnet, werde sie nur noch gefragt: „Wann bist du gekommen? Wann fährst du wieder?“

Den kulturellen Diskurs ihres Landes fasst sie so zusammen: „Es spielt keine Rolle, wer was schreibt. Die moldawische Literatur wird nur noch eingeteilt in Literatur mit ,pitscha‘“ (pitscha bezeichnet auf Russisch und Rumänisch das weibliche Geschlechtsorgan) „und in Literatur ohne pitscha. Ich habe schon viele Texte ohne pitscha geschrieben, das nützt mir aber nichts mehr.“

Die skeptische Nichtwählerin scheint mir die Richtige, um mir die „moldawische Revolution“ zu erklären. Moldawische Politik ist ein Buch mit sieben Siegeln: Die von der Revolution gestürzten Kommunisten waren Europafreunde, die jetzige Rechtsregierung nennt sich „Allianz der europäischen Integration“, die mitregierende „Liberale Partei“ sendet Signale einer Identifikation mit dem Faschismus des rumänischen Antonescu-Regimes. Ein patriotischer Taxifahrer, Ex-Offizier der Roten Armee, erklärt mir, dass Moldawien „die progressivste Gesetzgebung von allen Nachfolgestaaten der UdSSR“ habe. Man müsse nur anfangen, sich an die progressiven Gesetze zu halten.

Als es Tampons regnete.
Fand also am 7. April 2009 eine Revolution statt, Nicoleta? Sie sagt: „Ich weiß es nicht.“ Sie wisse nur, dass die Erstürmer des Präsidentenpalastes „Shampoos, Teller, Becher und Tampons“ aus den Fenstern geworfen hätten. Ist das Leben seither besser? Sie schüttelt den Kopf. Der junge Bürgermeister, auch so ein moldawischer Liberaler, tauge nichts. „Früher war es schon schlimm, aber jetzt stinkt es auch noch in der ganzen Stadt nach Scheiße.“ Ich rieche nichts dergleichen, werde aber von allen Gesprächspartnern dieselbe Information bekommen. Ist offenbar mein Glück, dass ich eine verregnete Woche erwische.

Ich breite einen Stadtplan vor uns aus. Nicoleta streicht mit dem Stift darauf herum: Das Stadion verfallen, der Zirkus verwahrlost, der Komsomolzensee ausgelassen. Wie bitte, der Komsomolzensee? Ich erinnere mich, dass ich in früher Jugend schon einmal in Kischinjow war. Der Komsomolzensee ist mir als romantisches Kleinod in Erinnerung, ich bin mit einer Frau auf ihn hinausgerudert. Der See, auf dem ich die Frau entweder küsste oder küssen wollte oder zu küssen müssen meinte, auf dem ich jedenfalls überlegte, ob das Boot im Fall eines Kusses nicht kippen würde – dieser See ist seit Jahren ausgelassen? Nicoleta nickt und streicht den Komsomolzensee aus, mehrmals, übermalt ihn geradezu.

Auf Nicoletas Tipp hin ziehe ich in den Stadtteil Rîşkani. Wo der Kiewer in den Moskauer Boulevard übergeht drängen sich gut 20Lokale um einen McDonald's-Drive-in, in den sich unter der Preisklasse eines BMW X5 niemand einfahren traut. Das Arm-Reich-Gefälle in Osteuropa ist bekannt, das ärmste Land Europas lässt aber auch dem geübten Ostreisenden den Mund offen stehen. Hier fährt man Mercedes, BMW, Offroader. Oder geht zu Fuß und wird auf dem abgeschabten Zebrastreifen überfahren. Arbeit ist billig, eine Taxifahrt kostet weniger als ein Kaffee.

Zungenküsse, ganz chic.
Einmal ist abends am schicken „Gazzetto Café“ angeschrieben: „Heute Mafia-Spiel“. Ich glotze hinein. Drinnen verlustieren sich schöne junge Leute mit Cocktails, in Boutiquenmode, Jungs mit Stirnfransen. Eine Blonde zelebriert einen Kuss, indem sie den halb bereiten Lippen ihres Gespielen theatralisch die Zunge hinstreckt. Beide vollführen während des Zungenkusses eine tänzelnde Bewegung, vergnügt an ihrer Leichtigkeit.

Ich gehe ins moldawische Revolutionstheater. Irina Nekit, in der Provinz aufgewachsen, Lyrikerin, Autorin von zwei in Rumänien erschienenen Bücher und Kulturredakteurin einer rumänischsprachigen Zeitung, hat zwei Theaterstücke über die große moldawische Aprilrevolution geschrieben. Sie lädt mich zur Premiere des zweiten ein. Die fragile antikommunistische Regierung kultiviert das Ereignis, ein Revolutionsdenkmal ist fertig; zum ersten Jahrestag gedachten Präsident, Premier und Teile der Geistlichkeit.

Das Stück heißt „Korridor des Todes“ und bezieht sich auf den brutalen Polizeieinsatz in der Nacht nach der Verwüstung des Präsidentenpalastes, mit vermutlich vier oder fünf an den Spätfolgen verstorbenen Jugendlichen. Die Aufführung ist ein aufwendiges Requiem aus pathetischen Chorälen. Große Schatten schlagen mit Gewehren auf kleine Schatten ein, schwarz Gewandete tragen Blumen, eine Mutter schluchzt am Katafalk ihres Sohnes, bis sich bei bombastisch-sphärisch getrommelter Musik der tote Revolutionär aus dem weißen Tuch erhebt. Am Ende fordert eine Stimme zum Aufstehen auf. Gedenkminute, Applaus.

Nachher begleite ich die mit einem Blumenstrauß bewehrte Dramatikerin zu ihrer Bushaltestelle, durch ihr Kischinjower Lieblingsplätzchen, den nach dem Moldaufürsten „Stefan der Große“ benannten Zentralpark. Sie erzählt mir von der Revolution, bewegt und bewegend. Sie bestätigt, dass die Menge beim Hissen der rumänischen Fahne jubelte. Sie lässt unionistische Gefühle für Rumänien erkennen, obwohl man die Moldawier in Rumänien „ein bisschen verachtet“.

Wie ich der sanft vornehmen Dame so zuhöre, muss ich an das Wort des russischen Gouverneurs von der Leichtgläubigkeit der Kischinjower denken. Den Bürgermeister nennt Irina Nekit einen Helden, weil er „am 7. April ohne Sakko auf die Straße ging und den jungen Leuten sagte: Werft keine Steine, das provoziert!“ Sie sagt, ihre Zeitung sei von einem deutschen Verlag übernommen worden. Bei der Überprüfung des ein wenig deutsch klingenden Namens finde ich nur einen US-Fonds für Risikokapital.

Das größte Mammut Europas.
Auch sie klagt über den zur Schottersenke erniedrigten Komsomolzensee, nur sind bei ihr die Kommunisten schuld. Immerhin habe man am Grund des Sees ein Mammut gefunden. Nun habe Kischinjow das größte Mammut Europas. Abgesehen davon, dass Kischinjow mit den pompösesten spätsowjetischen Neubauruinen aufwartet, ist das der einzige erkennbare Rekord. Ich sehe mir das Mammut an, im Ethnographischen Museum, der in den Mammutkeller abgestellten zwangspensionierten Lehrerin rette ich damit den Tag. Nun ja, fünf Meter hoch und sechs Meter lang. So groß ist das größte europäische Mammut auch wieder nicht.

Ich wende mich dem russischen Kischinjow zu, nicht weniger bedeutend. Auf einer von der russischen Botschaft ausgerichteten Konferenz „Russland-Moldawien – Dialog im Namen der Zukunft“ geht es wieder nur um den Großen Vaterländischen Krieg. Dutzende Würdenträger aus Moldawien und Transnistrien sind versammelt, der Ton der vorsitzenden Russen ist aber höchst unduldsam, und die Punkte, über die man Einigkeit erzielen wird, liegen doch tatsächlich schon zu Konferenzbeginn als Hand-out auf. Mit Russland ist es halt auch nicht leicht.

Wladimir Lortschenkow bestellt mich vor die Ruine eines Kinos. Der Romancier russischer Zunge empfängt mich mit dem „Georgsband“ am Revers, im Zarenreich der höchste Orden, jetzt will er damit des Sieges über den Faschismus gedenken. Er nennt Kischinjow eine „verlassene Stadt“. Moldawien sei nur durch hohe Subventionen der „Garten der Sowjetunion“ gewesen, es habe „schwedischen Sozialismus ohne schwedische Arbeit“ gegeben.

Er führt mich durch einen ungepflegten Park und sagt: „Ich erinnere mich an ebenen Asphalt hier, an Straßenlaternen. Jetzt ist es eine Stadt im Dschungel. Die Leute gehen weg, die Stadt wird von Lianen überwuchert.“

Der bis zur Graphomanie produktive „Handwerker“ schimpft auf die moldawischen Autoren: „Ich arbeite, seit ich 14 war. Die sitzen im Autorenverband und saufen. Sie arbeiten nicht. Sind Alkoholiker.“ Stipendien nennt er eine Erniedrigung, da arbeite er lieber als PR-Manager für eine Reiseagentur. Er sagt, dass er die Moldawier „im Prinzip nicht sehr mag; aber außerhalb Moldawiens kann ich nicht leben“.

Irgendwann verstricke ich mich in seinen Widersprüchen. „Wie, Ihre Kinder sollen nicht in Moldawien aufwachsen, aber Sie wollen erst weggehen, wenn die Kinder 18 sind? Mit 18 können die Kinder doch selbst entscheiden, wo sie leben.“ Da wird er unduldsam und antwortet mit patriarchaler Schärfe: „Also ich werde mich um meine Kinder kümmern, bis sie 40 sind!“ So werden wir nicht Freunde.

Moldawien, eine Spekulation.
Dann noch Pavel Braila, international erfolgreicher Videokünstler, nebenbei ein Freund von Nicoleta, in der Heimat ähnlich gemieden, und ein witziger Bursche. Auch er bestellt mich zu einem verlassenen Kino. „Moldawien ist ein spekulativer Begriff“, sagt er. Und: „Anders als vor 20 Jahren ist Kischinjow vollkommen abgefuckt. Es werden nur Shoppingcenter gebaut.“

Das habe ich nun schon ein paar Mal gehört. Warum aber gefällt es mir so gut im Bessarabischen? Ich treffe Nicoleta noch mal. Sage: „Das ist doch ein wunderbares Land. Diese romanisch-slawische Doppelidentität ist ein Geschenk. Nenn mir ein Land in Europa, wo die große Mehrheit so zweisprachig ist wie bei euch! Ihr könntet ein Vorbild für Belgien sein und gar für die Schweiz!“ Nicoleta lacht. Und antwortet: „Das sieht hier aber keiner so. Hier wollen alle eine eindeutige Identität.“

Manchmal, wenn wir reden, streicht sie auf ihrem iPhone herum. Hat ihr ein „Jemand“ geschenkt, mehr gibt sie dazu nicht preis. Und dann gibt sie zu, dass sie eigentlich „sehr glücklich“ sei. Und stellt sich im nächsten Moment die Frage: „Wie ist das in so einem Land möglich?“

Es ist kein normales Land. Ich verstehe das gut. Moldawien ist brutal, doch friedlich, hart und entspannt, undurchschaubar, fruchtbar, frivol, sexy – großartiges Material für die Kunst. „Nicoleta, fürchtest du nicht, dass Moldawien ein normales europäisches Land wird und du nichts mehr zu schreiben hast?“ – „Nein, das wird erstens kein normales Land. Und außerdem?“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2010)

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