Kuba: Der Franzose

(c) AP (Javier Galeano)
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Eine Reise mit der Bahn, die beginnt, bevor der Zug rollt.

"No tomen fotos!“, zischt eine Frau in Uniform. Auf die Frage nach dem Grund dieses Verbotes antwortet sie mit einer Gegenfrage. „Cuál tren están esperando?“ Auf welchen Zug warten Sie? Nach Santiago de Cuba. Der komme später, ein paar Waggons seien gerade in Reparatur, vielleicht eine Stunde noch, sagt die Frau.

Es ist zwanzig nach fünf Uhr nachmittags, in zehn Minuten sollte er fahren, der Zug, der für seine Pünktlichkeit gelobt wird. Die Wartehalle von Havannas Hauptbahnhof ist voller nervöser Menschen. Nervös nicht wegen der Verspätung, eher wegen der Reise an sich. Heute fährt der Zug, der 900 Kilometer in 17 Stunden schafft.

„El francés“, der Franzose, wie er genannt wird, ist ein Einzelexemplar. Der einzige Zug Kubas mit Klimaanlage und Essensangeboten an Bord. Er pendelt zwischen der Hauptstadt im Westen der Insel und der zweitgrößten Stadt des Landes im Osten. Wenn er nach Plan fährt, verlässt er Havanna alle drei Tage. Und fährt nach einem Tag Pause wieder zurück.

Ausländer zahlen mehr

Eine dröhnend laute Durchsage: „Estimados pasajeros. El francés tiene retraso.“ Der Franzose hat Verspätung. Nicht selten kommen Defekte vor, erklärt eine ältere Dame, die mit ihrem Sohn wartet. Wenn es nicht an den Schienen liege, seien es die Züge. Aber das sei nun einmal so, für bessere Instandhaltung fehle das Geld. Die Amerikaner und ihre Politik seien schuld.

Die Verspätung ist nicht die Überraschung. Der Ticketkauf hat viel mehr verblüfft. Kubas Züge befördern – nicht wie die Busse – In- und Ausländer zusammen. Kubaner zahlen umgerechnet 1,70 Euro für die Fahrt, Ausländer für das Gleiche fast 45 Euro, während auf den Straßen Banner an die Wand gemalt sind, die vom klassenlosen Sozialismus schwärmen.

Nach drei Stunden schallt eine Ansage: Passagiere bitte zum Zug! Die Sonne geht unter. Ein drittes und viertes Mal werden die Fahrscheine kontrolliert, dann nehmen die Gäste nach und nach ihre Plätze ein, der Zug rollt an. Nach einigen Minuten geht eine Kontrolleurin durch die Reihen. Die Fahrtzeit betrage wie immer 17 Stunden, die Klimaanlage sei im Moment defekt, das Licht werde um elf Uhr ausgemacht. Nur die Passagiere in unmittelbarer Nähe verstehen sie, zu laut rumpelt und quietscht der Franzose.

In der Dämmerung passiert der Zug die boomenden Städte im Nordwesten, in denen sich die Pauschaltouristen aus Europa und Nordamerika wieder breitmachen, seit eine Öffnung des Landes erkennbar sind. Nach einem kurzen Halt in Santa Clara fährt der Zug weiter in die Nacht. Die Lichter gehen aus, die Klimaanlage beginnt zu arbeiten. Zwischen den Waggons knallt bei jeder kleinen Unebenheit ein Zugteil auf das andere.

15 Cent für ein Käsesandwich

Doch das Abteil schläft, an den Lärm haben sich alle gewöhnt. Wie viele Fahrzeuge und Maschinen in Kuba ist der Franzose eine Second-Hand-Ware. 1964 in Frankreich gebaut, fuhr er als Trans-Europe-Express zwischen Paris, Brüssel und Amsterdam. Nach Jahrzehnten auf dem Abstellgleis kaufte ihn die kubanische Regierung 2001. Mit dem Franzosen erwachte der Schienenverkehr wieder zum Leben. Durch die Krise nach dem Zusammenbruch des Ostblocks waren kaum noch Züge gefahren, seit die kubanische Wirtschaft aber wieder wächst, investiert das Land mit seinen spärlichen Mitteln in den Schienenverkehr. Es geht auch um Prestige, denn Kuba erbaute schon 1836 ein Schienennetz, bevor die damalige Kolonialmacht Spanien über so etwas verfügte. Bis heute gibt es in der Karibik kein zweites Land, in dem Züge fahren.

Langsam wird es hell. Draußen Sumpflandschaften und Felder, hin und wieder passiert der Franzose ein verschlafenes Dorf, manchmal wird er langsamer, Passagiere springen auf, andere ab. Die Klimaanlage ist pünktlich zum Sonnenaufgang wieder ausgefallen. Wann sind wir in Santiago? Erstmal komme noch Camagüey, erklärt die ältere Dame von gestern, dann ein paar Dörfer, gute sechs Stunden. Beim Halt in Camagüey, der drittgrößten Stadt Kubas, springen vier Sandwichverkäufer auf den Zug, als dieser noch rollt. Alle bieten Käsesandwiches an, identische Größe, identisch verpackt. Der Erste verkauft ein Paar für umgerechnet 30 Cent, die Letzten gehen leer aus. Drei Stunden noch. Auf dem Gang riecht es nach Urin, wenn die Schiebetüren nicht geschlossen werden, zieht es durchs ganze Abteil. „En unos minutos llegamos a Santiago“, sagt die Kontrolleurin, gleich erreichen wir Santiago. Der Franzose fährt in den Bahnhof ein, er hat nun einen Tag Pause, bevor er zurück nach Havanna muss.

Ein so alter Zug kann eine so holprige Strecke fahren, immer und immer wieder? Zum ersten Mal lächelt die Kontrolleurin. „Es cubano, Señores.“ Man gehe sorgsam mit seinen Dingen um, das sei typisch kubanisch. „Y un poco francés.“ Und ein wenig französisch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2010)

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