Südindien/Kerala: Tiger suchen und Elefanten finden

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Zu Fuß auf dem "Periyar Tiger Trail" durch die abgelegenen Kardamom-Berge. Mit Geduld, Ausdauer und sehr viel Glück kann man dort dem König des Dschungels begegnen. Der Wanderer folgt ihm auf eigene Gefahr.

Der „Tiger Trail“ ist ein vollkaskofreies Terrain, der Wanderer folgt ihm auf eigene Gefahr. Erste Regel: immer auf die einheimischen Begleiter hören. Regel Nummer zwei: zu wilden Tieren Abstand halten, wenn es denn möglich ist. Drittens: still sein. Und: kein Alkohol, kein Parfum, keine Musik, keine helle Kleidung. Strengstens verboten ist es auch, in der Dunkelheit herumlaufen, und sei es nur im Camp.

Aufbruch im Morgengrauen, unsere kleine Wandertruppe wird von ein paar Mann begleitet, Träger, Köche und Fährtenleser in Personalunion. Einer von ihnen, Tanghan, ist bewaffnet, denn im Wald warten auch Leoparden, Lippenbären, Königskobras. Und natürlich Schir Khan, der König der Wildnis. Rudyard Kiplings ganzes „Dschungelbuch“-Ensemble leistet ihm im südindischen Periyar-Reservat Gesellschaft: 62 Säugetier-, 315 Vogel-, 45 Reptilien- und 27 Amphibienarten.

Der Periyar-See in den Kardamom Hills wurde 1934 wurde zum Wildschutzgebiet erklärt, 1978 wurden 777 Quadratkilometer als Tigerreservat deklariert. 1998 entstand schließlich der „Tiger Trail“. Nur noch schätzungsweise 40 dieser Wildkatzen leben in Periyar. Tatzenspuren lassen Rückschlüsse auf die Population zu. Jeder Abdruck verrät Geschlecht, Alter und Größe. Allerdings bekommen die wenigsten Besucher die menschenscheue Großkatze auch wirklich zu Gesicht.

Früher Wilderer, heute Guide

Die Männer, die uns begleiten, halten unterwegs auch Ausschau nach Wilderern. Zuvor haben sie selbst auf diese Weise ihren Lebensunterhalt verdient: mit Jagen von geschützten Tieren und Schlagen von Edelhölzern. Sie sind die Ureinwohner in dieser Ecke von Kerala, und Periyar ist ihr Wohnzimmer. Die Forstverwaltung hat einige der Wilderer zu Naturschützern und Touristenguides bekehrt.

Abwechslungsreich wirkt die Landschaft der abgelegenen Kardamom Hills, wo sich das Reservat befindet. Regenwald, Laubfeuchtwald, Grasland wechseln in diesem Park, der in konzentrischen Kreisen angelegt ist. Im äußersten Ring dürfen Touristen unterwegs sein, hier verkehren Ausflugsboote, hier befinden sich die Gästeunterkünfte, Straßen und viel Wald. Der zweite Ring fungiert als Pufferzone. Ganz im Inneren schlägt das Herz des Dschungels: 350 Quadratkilometer Kernzone.

Über dem See kreisen Fischadler, aus dem Wald dringt Affengebrüll. Auf dem Weg zum Nachtlager entdecken wir einen Elefantenknochen sowie Bärenkot. Und eine Tigerspur. Der Tatzenabdruck muss zwei, drei Tage alt sein. Die Spannung in der Gruppe steigt, während die Träger auf einer Anhöhe das Nachtlager aufbauen – geschlossenes Zelt für die Touristen, offener Unterstand für das Servicepersonal. Zwei Begleiter halten Nachtwache. Das Feuer brennt die ganze Nacht, es schützt vor ungebetenem Besuch. Die Träger schlagen meterhohe Funken aus der Glut. Nur hundert Meter neben dem Lager haben sich Elefanten versammelt. Sie protestieren, trompeten, denn unser Camp steht justament auf ihrem Pfad. Am Morgen erfolgt der Aufbruch zeitig. Lianen hängen wie armdicke Spaghetti von den Bäumen. Tanghan führt die Gruppe an, sein Gewehr stets geschultert oder im Anschlag. Die Träger folgen mit Töpfen und Schachteln auf dem Kopf. Ein Nashornvogel beobachtet die Truppe – scheinbar grinsend.

Als wir aus dem Wald kommen, trottet eine Elefantenfamilie auf uns zu. Papa, Mama und Tochter beim Essen – sie reißen mit ihrem Rüssel Gras aus und verschlingen es im Gehen. Das Elefantenkalb müht sich um Anschluss. Behutsamer Rückzug ist angesagt, da knackt es im Wald. Familie Elefant ist aufgeschreckt und ergreift die Flucht. Zehn Meter hinter uns taucht eine Schrecksekunde später ein Wildrind mit Kalb auf. Als die beiden Tiere uns bemerken, flüchten sie ebenfalls.

Das nächste Nachtquartier liegt an einem Bach. Nicht ganz gemütlich: Am Morgen entdeckt Tanghan eine Python im Wasser. Erneut warten Elefanten nahe dem Lager, am Nachmittag lässt sich am See ein weiteres Dutzend Dickhäuter nieder – zum Duschen. Plötzlich zeigt einer der Träger auf eine Tigerspur: frisch vom Vortag. Und offensichtlich hat der Tiger an einem Baum seine Krallen geschärft. Die Hoffnung auf eine Sichtung steigt. Bis Tanghan beim Abendessen am offenen Feuer gesteht, bisher erst vier lebende Tiger in Periyar gesichtet zu haben. Dafür viele Schlangen, einschließlich einer fünf Meter langen Königskobra. Bei einem Biss sei „first aid“ gefragt. Man verkneift sich die Frage, was das – einen Tagesmarsch vom nächsten Telefon oder Auto entfernt – konkret bedeutet.

Besuch im Morgengrauen

Zum nächsten Camp sind es nur wenige Kilometer. Wir deponieren dort das Gepäck, wandern auf einen Berg. Aus dem Wald schießt eine Wildschweinhorde, am Seeufer lassen sich Dschungelrinder blicken. Im nahen Unterholz ein Schreck: ein Gaur, ein riesiger Stier. Auch er flieht vor uns Zweibeinern. Noch immer kein Tiger.

Im Morgengrauen der dritten Nacht kriecht Nebel über den Boden. Um sechs Uhr reißt ein Laut alle aus dem Schlaf. Der Tiger ist da. Den Dezibel nach könnte er vor dem Zelt stehen. Tanghan ist aufgelöst: Er hat ihn gesehen, vom Waschplatz aus, höchstens 200 Meter entfernt. Er will gleich sein Gewehr holen, wir machen uns sofort auf. Noushad, der Fährtenleser, erklärt, der Tiger jage einen Hirsch. Im feuchten Grasland zum Waldrand stellt er fest, dass es sich um ein Tigerweibchen mit Jungen handeln muss. Wir halten Ausschau, finden neue Spuren, hören aber kein Brüllen mehr. Ratlos stehen wir am Waldrand. Der Dschungel hat die Tigerin wieder verschluckt. Hinterher oder nicht? „Wir gehen nicht weiter“, erklärt Tanghan. Im dichten Wald sei es zu unübersichtlich. Folge man der Tigerin, könne sie einen angreifen, weil sie ihre Jungen in Gefahr sieht. Für uns endet der „Tiger Trail“ hier. Tanghan hat seinen fünften Tiger gesehen. Uns dagegen hat Schir Khan bloß geweckt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2011)

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