Island: Der Herzort und seine Wiedergänger

(c) Reuters (INGOLFUR JULIUSSON)
  • Drucken

Die Vulkaninsel ist ein Mordsspektakel aus Wasser, Feuer, Eis und vielen Worten – eine riesige, höchst ergiebige Literaturlandschaft, wie das Gastland auf der heurigen Frankfurter Buchmesse bewiesen hat.

Wie viele Isländer hat auch Steinunn Sigurđardóttir einen „Herzort“. „Ich sehnte mich danach, dort zu wandern“, lässt sie in ihrem Roman „Die Liebe der Fische“ die Heldin sinnieren: „Ich wollte bei Sonnenschein das Birkenlaub an einem Bach im lauen Sommerwind funkeln sehen, darüber und ringsherum das ewige Eis des Vatnajökull, so gewaltig, dass es eigentlich mehrere Gletscher sind, die verschiedene Namen haben. Das Auge dürstete nach blauem Storchschnabel am Hang, umgeben von Gesträuch, das man in Island Wald nennt. Diesem bescheidenen Wald setzen reißende Gletscherflüsse auf ihrer labyrinthischen Bahn über den schwarzen Sander zu, der in hafenloser Küste endet.“

Man möchte der renommierten Autorin weiter zuhören und dabei immer weiter vom Text in die reale Landschaft wandern, nach Skaftafell, wo der „Herzort“ von Sigurđardóttir liegt. Die Autorin steht an der Mole des kleinen Hafens von Stokkseyri, trägt eine Tunika aus leuchtendem Blau und schaut auf die glatte Nordsee. Sie hat ihr aktuelles Buch mitgebracht, „Der gute Liebhaber“. Der Abendhimmel wirft trotz dichter Wolken einen silbrigen Glanz auf das stille Meer. Ganz in der Nähe, in Selfoss, hat Sigurđardóttir ein Haus. „Zwölf Monate im Jahr könnte ich hier nicht leben, mein Kopf würde sterben“, sagt sie. Aber wenn sie nicht in Island ist, hat sie Heimweh. So zieht es sie immer hin und her. Island spiele die wichtigste Rolle in ihrer Literatur, sagt sie.

Nächster Morgen, die Reisegruppe sitzt im Bus und macht keinen Mucks. Das Land spricht. Wir hören es durch die Seitenscheiben, sehen riesige Aschefelder, Berge aus dunklem Vulkangestein, die von einem hellen, phosphoreszierendem Grün überzogen sind. Es schüttet, die Sicht wird schlecht. Wie im Zeitraffer ziehen Stimmungen und Wetterlagen über die Lavaberge, in deren Hintergrund die Schneefelder des Mýrdalsjökull im Grau verschwinden. Dann wieder bricht die Sonne hervor. Die Straßenränder gehen in Geröll über. Begleitet vom Takt der durchbrochenen Mittellinie und den gelben Markierungspfosten zieht sich die Nationalstraße1 durch ein breites Tal in die Ferne. Fahren ist wie Lesen im Buch dieser Landschaften.

Textlandschaft

Bei Vík erheben sich markante Basaltformationen über einem Strand aus schwarzem Sand. Aus dem Meer ragen dunkle Felsnadeln, die Dykes. Der Legende nach sind es Trolle, die versteinert wurden, als sie ein Schiff an Land ziehen wollten. Die Geschichten von Trollen, Elfen, Wiedergängern und anderen „Unsichtbaren“ sind auf Island auch heute noch so präsent wie die Sagas aus der Zeit vom zwölften bis zum 14.Jahrhundert. Im Herbst sind sie neu übersetzt und kommentiert vierbändig im S.-Fischer-Verlag herausgekommen – eine wunderbare Ausgabe der beliebtesten Sagas erschien bei Galiani, Berlin: „Der Mordbrand von Örnolfsdalur und andere Isländer-Sagas“, nacherzählt von Tilman Spreckelsen, illustriert und gestaltet von Kat Menschik. Die Sagas sind Geschichten von der Landnahme durch Siedler und Verbannte aus Norwegen ab dem neunten Jahrhundert, von grobschlächtigen Helden, die sich mit Trollen und Wiedergängern herumschlagen. Es geht um Mord, Liebe, Ehre und um die Macht der Worte.

Island war immer ein armes Land, in seiner Dichtung und Literatur war und ist es reich. Da sich das Isländische seit der Saga-Zeit kaum verändert hat, sind die Geschichten lebendig geblieben, können quasi vom Blatt gelesen werden, befeuern den Stolz auf die eigene Literatur und impfen junge Männer und Frauen mit dem Traum vom Autorendasein. So kann der Island-Reisende nicht nur über Gletscher wandern, Schneeschlitten- oder Reittouren unternehmen oder im Winter auf Polarlichter hoffen. Allein mit dem Sehen und Lesen erlebt man genug. Hätte man nur die Zeit, auf der knapp 1400Kilometer langen Nationalstraße1 die Insel ganz zu umrunden. Es gäbe viel zu verknüpfen, all die Buchten und Plätze aus den Sagas, Romanen und Krimis, sie sind besprochene und dadurch verzauberte Natur.

Saga-Schauplätze

Auf unserer Route, die den Süden erkundet, halten wir beim Skógafoss. Dort kann man nicht nur alte Torfhäuser anschauen. Auch eine 60 mal 25 Meter große Wasserfront donnert herab. Hinter der Wasserwand soll vor Jahrhunderten ein Goldschatz versteckt worden sein. Was ist Fakt, was Fiktion? Als ein Bub glaubte, den Schatz gefunden zu haben, zog er an einem Ring, der an der Truhe befestigt war. Doch der löste sich, der Schatz verschwand in der Tiefe, während der Ring erst das Portal der Skóga-Kirche schmückte, ehe er seinen Platz im Museum Skógasafn fand. Saga-Schauplätze gibt es überall auf der Insel. Sozusagen auf einer Metaebene befindet sich der Snæfelljökull. Angeregt durch eine Passage in den Sagas arbeiten sich Otto Lidenbrock und sein Neffe den Schlot des Vulkans in Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ in die Tiefe vor.

„Humor nach Mittagnacht“

Nach dem Mittelalter erlebte die isländische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert eine zweite Hochphase. Exemplarisch steht hierfür Halldór Laxness, der 1955 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Sein Haus in Gljúfrasteinn ist seit heuer ein Museum. Auđur Jónsdóttir ist die Enkelin des Nobelpreisträgers, auch sie eine Schriftstellerin. Auf www.sagenhaftes-island.is hat sie den Frankfurter-Buchmesse-Auftritt begleitet. Elf Gegenwartsautoren stellten auf dem Portal ihre Lieblingsorte vor, eine Anregung für den Reisenden. Kristín Steinsdóttir etwa nennt den Seyđisfjörđur-Fjord, der ganz im Osten liegt. Er ist von hohen Felsen umgeben, sodass die Sonne von Oktober bis Februar nicht zu sehen ist. „Schafft sie es endlich, über den Bergrand zu schauen und ihre Strahlen über das gleichnamige Dorf zu schicken, wird der Sonnenkaffee getrunken und ein Fest gefeiert.“

Dass gerade in der Beschränkung, der Einsamkeit und vielleicht auch Langeweile das Potenzial für große Gefühle und groteske Scherze liegt, weiß Huldar Breiđfjörđ, den es auf die andere Seite der Insel zieht, nach Flateyri, in den äußersten Nordwesten. „Nicht nur, weil es der schönste Ort in Island ist“, wie er schreibt, „umzäumt von Bergen, die wegen der Schneestreifen im Frühjahr und Herbst so aussehen, als ob Zebras sich um den Fjord versammelt haben, um zu trinken.“ Auch das Nachtleben ist bemerkenswert: „Im Ort ist eine einzigartige Kneipe namens Vagninn, ,Der Wagen‘. Dort gilt es als lustig, seine dritten Zähne rauszunehmen und ins Bierglas des Nachbars zu tauchen – und der Humor wird nach Mittagnacht immer isländischer.“ Man möchte jeden dieser Orte sehen, erleben, vielleicht sogar seinen eigenen „Herzort“ finden.

Krimilektüre im Café

Am letzten Tag besuchen wir Reykjavik. In jedem anderen Land wäre diese Stadt eine von vielen und nicht weiter interessant. In Island wirkt sie wie ein Brückenkopf der urbanen und globalen Gegenwart, die mit dem Rest der Insel wenig zu tun hat. Dass nicht jeder, der auf der Suche nach Arbeit und Ablenkung in die Stadt gezogen ist, mit dem Wechsel zurechtkommt, kann man in den Krimis von Arnaldur Indriđason nachlesen. Der ehemalige Journalist ist derzeit der erfolgreichste Autor des Landes. Romane wie „Kälteschlaf“ und „Todeshauch“ sind auch in unseren Breiten Bestseller. Die Hauptperson der Kriminalreihe ist ein schwermütiger, übellauniger Kommissar namens Erlendur. Wer einmal einen Krimi von Indriđason begonnen hat, kann die Stadt nicht mehr ohne ihre dunklen Schatten sehen. Und nicht mehr aufhören zu lesen. Zum Glück gibt es viele Cafés im Zentrum, in denen sehr wahrscheinlich noch andere Gäste mit einem Buch in der Hand sitzen. Auch in den Buchhandlungen, etwa bei Eymundsson, wird eifrig gelesen. Falls es ein Herzland der Literatur gibt, liegt es weit im Norden, im arktischen Meer zwischen Grönland und Norwegen, wo Landschaft und Literatur Geschwister sind.

Sagahaftes

Der Autor war mit Visit Iceland
und Air Berlin unterwegs.

Visit Iceland – Isländisches Fremdenverkehrsamt
visiticeland.com, visitreykjavik.is,
iceland.is

Übernachten:Countryhotel Höfdabrekka, DZ ca. 155€; Hotel Selfoss, DZ ca. 115€; Grand Hotel Reykjavík, DZ ca. 200€
hfdabrekka.is, selfoss.is, grand.is

Essen:Sjávargrillid/Reykjavík: Der Chef des neuen Restaurants wurde zum Besten seines Fachs in Island gekürt; Fjörubordid/Stokkseyri: Frischer Hummer ist die Spezialität des gemütlichen Lokals am Strand.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.