Amanshausers Welt: 293 Russland

Am Baikalsee ist die Frage: Kennenlernen oder nicht?

Unterhalb der Mauer sehe ich die drei jungen Frauen auf einer Steinhalde sitzen, es ist einer der wärmsten Tage des Jahres. Sie tragen Bikini. Sie scheinen überhaupt nicht zu planen, ins Wasser zu gehen – ihnen geht es ganz offensichtlich um Bräune –, aber ich, der zufällige Spaziergänger, der eigentlich nur zum Wasser runterwollte, verspüre plötzlich Schwimmlust. Der Baikalsee ist immer kalt, in manchen Sommern erreicht er keine 13 Grad, aber ich habe mir sagen lassen, dass dieser Sommer warm war, dass Hoffnung auf 15 Grad Wassertemperatur besteht.
Ich halte Distanz zu den jungen Frauen, schließlich habe ich keine Badehose dabei. Meine Idee ist, exakt so weit entfernt von ihnen ins Wasser zu gehen, dass sie meine Unterhose für eine Badehose halten. Aber wie scharf beobachten russische Frauen? Und wie ist eigentlich die Unterhosenmode im burjatischen Teil Ostsibiriens?

Listwjanka ist eine Art Ortschaft an der Küste, eine auf fünf Kilometer lang gezogene „Siedlung städtischen Typs“ (Wikipedia) mit 1882 Einwohnern. Es werden jeden Tag mehr. Die Großstadt Irkutsk ist eine Stunde entfernt, und Leute mit Geld bauen sich hier ihre Ferienhäuser, Villen und Palästchen. In der Sowjetzeit wurde Listwjanka vom staatlichen Reisebüro Intourist als Sommerfrischeörtchen aufgebaut, und noch heute steht das eine oder andere realsozialistische Hotel an der Küste, als wäre die Zeit stillgestanden. In gewissem Sinne ist sie das noch. Rundherum stehen viele traditionelle Holzhäuser, früher Problemfälle, heute Immobilien, sie gewinnen mit jedem Herzschlag an Wert.

Weiter hinten befindet sich die populäre Buchta Peschanaja, wo die Vegetation aus Kiefern und Lärchen in Wiese und Sandstrand übergeht.

Auch mein Herzschlag steigt, ich habe eine schickliche Distanz zu den Frauen eingenommen, springe ins Wasser und bin nun Teil einer Wassermasse, deren Volumen fünfhundert Mal Bodensee beträgt. An meinen Füßen spüre ich etwas Kaltes – hoffentlich nicht der Golomjanka („Baikal-Ölfisch“) oder der Omul! Nein, es ist nur einfach verdammt eisig. Ich nehme einen Schluck, Baikalwasser gilt als Tafelwasser, wäre da nicht die Zellulosefabrik, aber die ist mir egal.

Nach dem Bad nähere ich mich den Frauen und sage Hallo. Fünf Jahre später habe ich vier Kinder mit Ludmilla, wir leben in einer kleinen Wohnung in Irkutsk und träumen von Moskau. Die Liebe. So schnell kann es gehen. Nein, war nur Fantasie.

INFO

Der wärmste Punkt des Baikalsees: Wegen des Angara-Abflusses friert er hier auch bei minus 40 Grad nie zu, Listwjanka, Russland.

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