Amanshausers Welt: 472 Italien/Österreich

Lieblingsblick von Gerhard, Foto vom 2. September 2006.
Lieblingsblick von Gerhard, Foto vom 2. September 2006.(c) Beigestellt
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Kleine Geschichten, große Locations.

Vor zehn Jahren war ich unterwegs in Udine, als meine Mutter anrief und sagte, dass es meinem Vater in Salzburg schlechter gehe. Die 24-Stunden-Hilfe habe gesagt, dass es sich nur noch um Tage handeln könne. Mein Vater lag bereits mehrere Wochen schweigend im Bett. Er würde, wenn nichts Unvorhergesehenes geschah, in dem Haus sterben, in dem er 78 Jahre und acht Monate vorher geboren worden war – und hoffentlich nicht im Krankenhaus, darauf achteten wir. Allein der Zeitpunkt war unvorhersehbar. So erreichte mich die Nachricht seines Verfalls auf einer Pressereise. Der Weg führte mich nach Portobuffolè, in eine der kleinsten Städte Italiens. Ich checkte in der Villa Giustinian ein. Es war ein kühler Nachmittag. Ich schwamm ein paar Längen im Pool. Danach schlief ich unruhig, absurderweise in einem Himmelbett mit massenhaft Goldverzierungen, in einer der barockhaft angelegten Hochzeitssuiten, während einige hundert Kilometer weiter nördlich mein Vater seine letzte Nacht durchlebte.

In der Früh rief ich meine Mutter an. Wir sprachen nur das Nötigste. Die 24-Stunden-Hilfe, spürbar Spezialistin für Todeszeitpunkte, hatte ihr gerade eröffnet, dass mein Vater nun wirklich zu sterben begonnen hatte. Ich brach die Pressereise ab und machte mich auf den Weg durch die Alpentunnel. Salzburg erreichte ich nach fünf Stunden Fahrt, knapp vor 14 Uhr.

Mein Vater konnte die Augen nicht mehr öffnen, ich erinnere mich aber genau an das Geräusch, das er ausstieß, als er meine Anwesenheit bemerkte. Es war ein begrüßendes Schnauben der Unzufriedenheit, mit dem er mir gegenüber seine unbequeme Situation ausdrückte. Ich sprach lang mit oder eher zu ihm. Wenn ich Tränen in den Augen hatte, ging ich zum Fenster, wo er oft gestanden war und nie mehr hinausblicken würde. Vom Ausblick in Richtung Süden, in Richtung Untersberg, den er so gut kannte, machte ich ein Foto. Um 17.03  Uhr atmete mein Vater zum letzten Mal ein. Ich war überrascht, dass der Tod kein Punkt war, sondern ein Prozess, der sich über Minuten erstreckte.

Sein Todestag jährte sich 2016 zum zehnten Mal. Seit 2006 haben einige Freunde Elternverluste hingenommen. Ich konnte sie nie trösten, aber ich sagte ihnen immer: „Ich fand es schlimm, und auch wieder nicht.“ Wirklich schlimm ist, wenn Kinder vor den Eltern sterben. Es sei wichtig gewesen, sagte ich, dass ich damals nicht zögerte, die Reise abzubrechen. Dass ich zu meinem Vater fuhr.

Ort

Todestag. Rückreise von der Villa Giustinian, Via Giustiniani 11, 31040 Portobuffolè, Italien.

Tipp

www.amanshauser.at

Neues Kolumnenbuch: Martin Amanshauser, „Typisch Welt. 111 Geschichten“, Picus Verlag, 2016.

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