Schaukelstühle: Wiege der sommerlichen Trägheit

Schaukelstuehle Wiege sommerlichen Traegheit
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Vor und zurück, mehr muss man sich bei der Hitze wirklich nicht bewegen. Das finden strickende Großmütter genauso wie Möbeldesigner.

Herumliegen – ja, das wäre Nichtstun. Aber im Schaukelstuhl sitzen, das erfordert Bewegungswillen: die Gewichtsverlagerung nämlich, wohl die einzig zumutbare Aktivität bei 38 Grad und mehr. Knarzende Holzdielen einer Veranda in den sumpfigen Südstaaten Amerikas, eine strickende Großmutter, ein vor sich hin sinnierender Pfeifenraucher, eine stillende Mutter – daraus baut man gern die Collage des Klischeebildes. Doch die Designer bauen uns heute Schaukelstühle, die so gar nicht in diese Vorstellung passen, dafür zu den Möbeltrends und den akuten Bedürfnissen des Sommers: jenem nach Entspannung etwa.

So zahlreich wie selten wackelten heuer auf der Mailänder Möbelmesse gerade jene Designobjekte, die normalerweise nach höchster Bodenhaftung und Stabilität streben. Auf Loggias, Balkonen und in den Gärten huldigen die Menschen nun dem einfachen Prinzip des Vor und Zurück. Und der beliebigen Wiederholung desselben. Das meditative Wippen im Stuhl könnten die „Shaker“ erfunden haben, eine amerikanische Glaubensgemeinschaft, irgendwann im 18. Jahrhundert. Sie sollen die Stuhlbeine mit gebogenen Kufen verbunden haben, so erzählt der Schöpfungsmythos des „Rocking Chairs“. Ende des 18. Jahrhunderts tauchte der Schaukelstuhl bereits in Möbelkatalogen auf. Und seitdem immer wieder dort, wo Großmütter und andere Menschen sitzen, die viel nachzudenken haben: Abraham Lincoln, Mark Twain und Pablo Picasso schaukelten gern, wie alte Fotografien zeigen.

Schaukeln tut der Seele gut

Kein Wunder, dass sich auch Erwachsene eine Wiege wünschen: Schaukeln macht glücklich. Das ist nachgewiesen. Denn der Körper produziert dabei das Glückshormon Serotonin. Noch etwas anderes produziert das Schaukeln: die Sicherheit, in der man sich wiegt, denn nach dem Vor geht's wieder zurück. Und auch das ist garantiert. Die „Shaker“ suchten die Einfachheit, in ihrem Leben und in ihren Stühlen. Michael Thonet, nachdem er begonnen hatte, mit Wasserdampf Holz zu biegen, suchte schon eher die Schmuckstücke: 1860 entstand schließlich ein Schaukelstuhl, der nicht mehr gar so simpel war. Ein einziger Riesenschnörkel war es eher, das Thonet-Exemplar mit der charmanten Nummer „1“. Vor ein paar Jahren produzierte der heutige Hersteller Thonet eine kleine Re-Edition von insgesamt nur 25 Stück. Wieder aufgelegt wurde auch ein anderer Klassiker, der „Rocker“ aus Buchenholz, entworfen 1942 vom österreichisch-amerikanischen Architekten Friedrich Kiesler. Der österreichische Hersteller Wittmann produziert heute die Re-Edition der Kiesler-Entwürfe. Andere Designlegenden wie Charles und Ray Eames stellten ihre legendären Kunststoffsitzschalen nicht nur auf Beine, sondern auch auf Schaukelkufen. Das Modell „RAR“ wippt noch heute für den Schweizer Hersteller Vitra.

Noch ein Großmeister des Designs ließ seine klassischen Entwürfe im Jahr 1956 schaukeln: Der Slowene Niko Kralj stellte ein Modell seiner berühmten „Rex“-Linie bewusst auch auf wackelige Beine. Später, Ende der 1960er-Jahre, zelebrierte der finnische Designer Eero Aarnio die Möglichkeiten des Kunststoffes: mit einem Plastikei, das sich in alle Richtungen neigte und in das die Sitzfläche eingeschnitten war. Nur noch Wölbung hingegen war schließlich der Entwurf des deutschen Designerduos „Confused Direction“. Vor ein paar Jahren ließen sie ein halbes Designerei schaukeln: „Odu“ ist eine gepolsterte Schaukelschale für alle, die ab und zu wieder zurück in die Embryonalstellung möchten. Und wenn Babys in der Wiege schaukeln, dann könnte sich doch die Mutter synchron mitbewegen, dachten sich die niederländischen Designer Ontwerpduo, als sie sich den Entwurf von „Rockid“ ausdachten, der Schaukelstuhl und Wiege kombiniert.
Auf der Mailänder Möbelmesse in diesem Jahr zeigte auch der Designnachwuchs, was er vom Schaukeln hält: „Wanna rock!“ rief das spanische Kollektiv „Mecedorama“ plakativ aus. Die Entwürfe aus feinem Metallgestell wippen nicht nur federleicht, sie lassen sich auch im Internet farblich individualisieren. So entstehen bunte „Mecedoras“ (spanisch für Schaukelstuhl, die noch dazu kolumbianisches Kunsthandwerk verweben. Rationaler ist der Zugang des Designstudios Barber Osgerby, die für Vitra den „Tip Ton“-Plastikstuhl gestalteten. Er soll Durchblutung und Konzentration fördern, nur zwischen zwei Positionen kippt er hin und her. Nach hinten, zur lässigen Entspannung, nach vorn, zum konzentrierten Arbeiten am Tisch. Dann richten sich das Becken und das Rückgrat auf, die Rückenmuskeln werden aktiviert. Bis man sich wieder zurückfallen lässt, in die Relaxposition.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2013)

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