Keine Angst vor Kontrollverlust

Wohnen nach dem Zufallsprinzip: Manchmal formen andere Kräfte die Entwürfe als die Kreativität der Designer.

Zufall ist die wichtigste Zutat für Gestaltung",
sagt Michael Tatschl vom Designtrio Breaded Escalope in Wien. Der "Original Stool" etwa ist das Resultat davon, wenn man einzementierte Designprinzipien über den Haufen wirft und lieber das Prinzip Zufall walten lässt: Ein Hocker, geformt von einer Idee, von Schwerkraft und menschlicher Interaktion. Gemeinsam mit Sascha Mikel und Martin Schnabl schickte Tatschl eine Kugel, gefüllt mit buntem Polyurethanharz, über die olym-pische Bobbahn in St.Moritz oder ließ sie auf Teneriffa in der Meeresbrandung treiben. Das Ergebnis ist eine bunte, zerknautschte, immer individuelle Sitzgelegenheit. "Das ist Serendipity .

Viele Dinge, die wir machen, lassen den Freiraum offen, dass sich glückliche Zufälle ergeben. Das ist uns viel wichtiger als die konkrete Formgebung." Für ihr aktuelles Projekt "Collective Furniture" legten die Designer die Produktentwicklung einem Kollektiv an Design interessierten Menschen in die Hände. Mit rund 40 Personen und der Neuen Wiener Werkstätte (NWW) als Produzenten ist im vergangenen Jahr ein modularer Tisch entstanden, der mit nur wenigen Handgriffen vom Ess- zum Büro- oder Wickeltisch mutiert, präsentiert wurde er zum ersten Mal auf der Vienna Design Week. "Es gibt eine von den NWW produzierte Variante und eine DIY-Variante, zum Selbstgestalten", sagt Tatschl.

"Das Phänomen, Design Dritten oder wachsenden Strukturen zu überlassen, ist ein relativ junges. Und mit Sicherheit eine Bewegung gegen vorgeschriebene Geschmacks- und Gestaltungsdogmen der Moderne", erklärt Thomas Geisler, Kustode der Designsammlung des Museums für angewandte Kunst in Wien. Allerdings lud bereits in den Siebzigerjahren der italienische Designer Enzo Mari zur Parti-zipation im Designprozess, ein erster Schritt in Richtung Open-Source-Design.

"Autoprogettazione" heißt seine Anleitung für 19 Designs für den Heimwerker. Sie reichen vom Regal über den Tisch bis zum Bett. Knapp zehn Jahre später entstanden die "Pratt Chairs" des Italieners Gaetano Pesce er modellierte neun Stühle per Hand aus gefärbtem Polyurethan. Es ist die Zeit des Anti-Designs, das sich vehement gegen die perfektionistische Ästhetik der Moderne und die Massenproduktion stellt. "Normieren, standardisieren man sieht ja, woran die Gestaltung der Moderne gescheitert ist", sagt Geisler.

Um die letzte Jahrhundertwende tauchte der Zufall und das Unplanbare in der Gestaltung wieder auf: Der Niederländer Maarten Baas setzte Möbel von Moooi, Eames und Gaudi in Brand und kreiert die Serie "Where there s Smoke". Für das schwedische Damentrio Sofia Lagerkvist, Charlotte von der Lancken und Anna Lindgren, kurz Front Design, gingen Tiere ans Werk: Ratten knabbern Tapeten an und kreieren einzigartige Muster, Schlangen schlingen sich um Tonzylinder und modellieren Wandhaken, Hasen laufen durch ihren Bau und liefern die Vorlage für Lampen.

Willkür

Auch junge Designer entdecken die willkürliche Zutat für ihre Arbeit: Rutger de Regt und Marlies van Putten von HandMade Industrials aus den Niederlanden schmelzen für ihre "Make&Mold"-Objekte biologisch abbaubares Granulat
in individuelle Gefäßform. "Es sind die kleinen Fehler in unseren Prozessen, die uns oft zu neuen Projekten führen", sagt van Putten. In ihrer Abschlussarbeit an der Royal Academy of Arts in London überließ sie chemischer Oxidation die Gestaltung. Die in Mailand lebende Venezolanerin Anabella Vivas bläst für das Projekt "100% Sand" etwa Glas durch Betonringe und formt dadurch einmalige Vasen. "Der Designprozess ist im Umbruch, die Rolle des Designers verändert sich, die klassische Entwicklung der Designer gestaltet konsumgerechte Produkte für den Markt bricht auf", sagt Geisler.

Breaded Escalope hat sich im Prozess, der zur "Collective Furniture" der Neuen Wiener Werkstätte geführt hat, in eine Moderatorenrolle zurückgezogen, mehr "eine Bühne als eine klare Gestaltungslinie" geboten. Die Designer kommen damit der Sehnsucht der Konsumenten nach Indi-
vidualität entgegen, die heute "mehr vorhanden ist als je zuvor", bestätigt Geisler. Gleichzeitig fördern neue Technologien und Materialien die Möglichkeiten, alternative Designzugänge auch umzusetzen.

Die Kraft der Sonne

Katharina Mischer und Thomas Traxler vom Wiener Studio Mischer Traxler nutzten für ihre Arbeit "The idea of a tree" die Sonne. Mittels Solarenergie und in Leim getränkter und gefärbter Baumwolle, überzogen mit einer dünnen Harzschicht, erzeugt eine Maschine Sitzmöbel und Lampenschirme. "Wir sind nicht die klassischen Formgeber und somit wahrscheinlich offener für Variationen, die durch gewisse Parameter passieren können", sagt Katharina Mischer. Wobei sich das Team von komplett willkürlicher Zufälligkeit abgrenzt.

"Unsere Arbeit ist eine Aufzeichnung. Es hat einen Grund, warum die Dinge so sind, wie sie sind." Der Grund lasse sich nur nicht vom Designer kontrollieren: Scheint die Sonne stark, ist das Möbel heller gefärbt, regnet es, ist es dunkler. "Wir leben in einer Zeit, in der eigentlich alles möglich ist. Warum nutzen wir nicht diese Möglichkeiten? Warum kann man die herkömmliche Produktion nicht ein wenig aufbrechen?", fragt Traxler. Derzeit als Kunstprojekt angelegt, aus dem bislang rund 40 Objekte hervorgegangen sind, soll "The idea of a tree" nämlich durchaus in die Möbelproduktion Eingang finden: "Die Idealvorstellung ist, den Prozess zu adaptieren und eine Firma zu finden, die das in großem Stil umsetzt. Wir wollen unsere Arbeit nicht unter den Glassturz der Kunst stellen."

Beim "Original Stool" von Breaded Escalope steht nicht das Produkt, sondern die Aktion, der Prozess an sich, im Vordergrund. Ähnliches gilt für das Kollektivprojekt Collective Furniture, dessen Ziel, neben einem Tisch für den Markt, auch eine An-leitung für alternative Produktionsprozesse ist. "Man kann damit alles machen Kaffeetassen, Kugelschreiber et cetera" Was dabei herauskommt, bestimmt der für den Designer unberechenbare Faktor Mensch. Tatschl: "Im besten Fall ist man dem Zufall gegenüber so eingestellt, dass man ihn nimmt, wie er kommt. Und zu seinem Vorteil entwickelt. Eigentlich ist ja das ganze Leben ein Zufall."

Das Kollektiv als Gestalter

Collective Desk. Während der Vienna Design Week Ende September wurde das Ergebnis präsentiert: Ein Prozess, den die Designer vom Studio Breaded Escalope vor mehr als einem Jahr gestartet hatten, im Auftrag der Wiener Werkstätte.

"Partizipatives Design" war die Überschrift für das Projekt, an dem sich die zukünftigen, designinteressierten Nutzer beteiligen konnten. Die Community war die treibende, gestalterische Kraft dabei, sie übernahm die Rolle des "Produkt-entwicklers". Bis zu 50 Menschen brachten sich, ihre Kommentare und Ideen ein, formulierten Bedürfnisse und Anforderungen. Entstanden ist dabei der "Collective Desk", ein anpassungsfähiges Homeoffice-Möbel, ein Arbeitstisch, der aus individuell zusammensetzbaren Modulen besteht.

Ein Grundgestell ist mit verschieden nutzbaren Arbeitsplatten belegbar, aus allen möglichen Materialien, in unterschiedlichsten Farben. So wandelt sich der Tisch, den die Neue Wiener Werkstätte produziert, flugs vom Küchen-, zum Arbeits-, Bastel- oder Bürotisch.

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