Wer gar nicht an Russland glaubt, hat keine Fantasie. Wer aber an eine schnelle Erholung seiner Wirtschaft und seiner abgestraften Börse glaubt, hat momentan Illusionen.
Wien. Wer noch Restillusionen über den Zustand der russischen Wirtschaft hatte, wurde davon spätestens dieser Tage beim Gajdar-Wirtschaftsforum in Moskau und beim Forum in Davos geheilt. Selbst die offiziellen Vertreter Russlands reden nicht mehr um den heißen Brei herum. Am krassesten formulierte es der angesehene Ex-Finanzminister Alexej Kudrin: Da der Ölpreis in den vergangenen Wochen noch weiter – auf unter 28 Dollar je Barrel – abgesackt sei, stehe der Gipfel der Krise in Russland noch bevor.
Daran wird auch der Ölpreisanstieg um achteinhalb Prozent am Freitag nicht so schnell etwas ändern, obwohl er den russischen Leitindex RTS um 9,38 Prozent auf 691 Punkte gepusht hat. Eine signifikantere Ölpreiserholung wird erst ab Jahresmitte wahrscheinlicher. In der aktualisierten Prognose für 2016 erwartet das Wirtschaftsministerium nun eine BIP-Kontraktion um 0,8Prozent statt eines Wachstums. Damit wird sich die Rezession fortsetzen, nachdem sie 2015 minus 3,9 Prozent betragen hat.
Eines der größten Risken ist laut Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew, dass die Bevölkerung zu sparen beginnt. Sie würde es ohnehin nur dem Staat gleichtun. Dieser nämlich wird die Ausgaben des mit einem Ölpreis von 50 Dollar veranschlagten Budgets um mindestens zehn Prozent kürzen. Andererseits ist ein Antikrisenprogramm von etwa fünf Milliarden Euro in Vorbereitung.
Am offensichtlichsten wird die neue Realität am Rubelkurs. Seit dieser 2014 freigegeben worden ist, folgt er ungebremst der Ölpreisdynamik. Am Freitag erreichte er ein Allzeittief: Ein Euro kostete 91,18 Rubel, doppelt so viel wie vor zwei Jahren.
Auch wenn der in Dollar denominierte Leitindex RTS am Freitag hochgesprungen ist, bleibt er vorerst im jahrelangen Abwärtskanal gefangen und nahe am Zehnjahrestief von etwa 500 Punkten aus der Zeit der Finanzkrise. Anders der zweite, in Rubel denominierte Index MICEX, der seit der 2014 begonnenen Rubelabwertung zulegt: 2015 um 26 Prozent.
Abwarten und selektieren
Ein Ausverkauf russischer Papiere sei in einer Situation wie der jetzigen nur logisch, meint Andrej Kuznecov, Analyst bei Sberbank CIB. Er empfiehlt daher abzuwarten, denn erst nach einer Stabilisierung des Ölpreises könne man bewerten, wie sehr der Wertverlust der Papiere gerechtfertigt sei.
Gewiss, es gab auch schon bisher ein Leben außerhalb des Ölpreises. Einzelne Sektoren hatten im Vorjahr Höhenflüge, allen voran die Agrarproduktion. So legte das Unternehmen Rosagro um 255 Prozent zu. Zugute kam den Produzenten das Importembargo auf Agrarprodukte, das Russland als Reaktion auf die westlichen Sanktionen verhängt hatte. Im Übrigen aber sind die Sanktionen eine der Barrieren für eine Erholung der Aktien, so Citi Research.
Zuletzt gab es immerhin Signale seitens der USA, die Sanktionen zu lockern. Andererseits bereiten eine mögliche Eskalation in Syrien und mögliche Terrorakte in Russland Sorge, so Citi: Die Abschläge (KGV: 5,6), mit denen russische Aktien gegenüber denen anderer Emerging Markets (KGV: 11,2) gehandelt würden, „werden wahrscheinlich bestehen bleiben“.
Dennoch: Einzelne Titel sind bei aller Vorsicht auch jetzt attraktiv. Oleg Tschichladze, Direktor der Investmentgesellschaft BKS Broker, empfiehlt dividendenstarke Titel wie die Moskauer Börse selbst, die Mobilfunkanbieter MTS und Megafon, den Düngemittelhersteller Phosagro und Vorzugsaktien des Ölkonzerns Surgutneftegaz.
Citi sieht Russland wegen seiner Währungsreserven und des Leistungsbilanzüberschusses stabiler als viele rohstofflastige Volkswirtschaften dastehen, teilt aber 2016 in zwei Hälften: Für die erste, eine Disinflationsperiode, empfiehlt die Bank unter anderem X5, Russlands zweitgrößten Retailkonzern. Für die zweite Jahreshälfte – eine frühe Erholungsphase mit positiven Gewinnerwartungen für 2017 – rät Citi zu Titeln, die am Ölpreis hängen oder von einer Aufhebung der Sanktionen profitieren: konkret die Sberbank und den Ölbranchenprimus Rosneft.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2016)