"Plötzlich sind da Leute mit Kaufkraft, und es gibt kein Angebot"

(c) Stanislav Jenis
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Wohnnachfrage. Die Kaufkraft von jungen Familien und Senioren werde unterschätzt, kritisiert ein deutscher Experte. Es gebe zu wenig Angebot.

Wien. Auch wenn die Zeit der steilen Preissprünge bei Immobilien vorerst vorbei zu sein scheint – ein Trend setzt sich seit Jahren fort: Je zentraler die Lage, desto tiefer muss man für Kauf oder Miete in die Tasche greifen. Je abgelegener, desto billiger könnte man wohnen – wenn man das wollte. Schuld ist der starke Zuzug in die Ballungszentren, in Deutschland wie in Österreich.

Das scheint auf den ersten Blick wenig verwunderlich. „Das Leben im Zentrum hat große Vorteile, man muss nicht pendeln und lebt am Puls der Zeit“, stellt der deutsche Trendforscher Eike Wenzel fest. Doch ortet der Experte, der kürzlich anlässlich des Immobilienforums von Immobilienscout24 in Wien war, auch einen gegenläufigen Trend. „Leute, die vor zehn Jahren in die Städte gezogen sind, etwa junge Familien mit einem gewissen Einkommen, denken wieder an einen Wegzug“, sagt der Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung.

Traum vom Eigenheim

Der Grund: Viele würden gern Eigentum erwerben. Dieser Traum lässt sich in der Innenstadt jedoch kaum verwirklichen – insbesondere dann, wenn man für die Familie viel Platz braucht. Man muss also in Kauf nehmen, ein Leben lang zur Miete zu wohnen und auf die Altersvorsorge in Form der eigenen vier Wände zu verzichten. So mancher junge Berufstätige wäre daher durchaus bereit, zu pendeln oder zwei Wohnsitze zu haben, etwa drei Tage in einer kleinen gemieteten Stadtwohnung zu leben und zwei Tage von zu Hause aus zu arbeiten.

Doch bleiben viele dann trotz dieser Überlegungen in der Innenstadt, weil Vorstädte und ländliche Regionen oft nicht das bieten, was sich diese Zielgruppe wünscht – und wofür sie auch zu zahlen bereit wäre: eine entsprechende Infrastruktur, eine funktionierende und ökologische Verkehrsanbindung, aber auch qualitativ hochwertige Wohnungen. Familien mit Kindern würden große Wohnungen in guter Qualität (intelligentes, vernetztes Wohnen, ökologische Nachhaltigkeit) nachfragen, glaubt Wenzel. Und viele hätten durchaus das Geld dafür. Die zweite Zielgruppe, deren Kaufkraft von der Immobilienwirtschaft vielfach unterschätzt wird, sind Senioren. „Leute jenseits der 60 haben oft noch 20 gesunde Jahre vor sich“, stellt Wenzel fest. Und viele haben Geld. „Wir leben nicht in einer Gesellschaft, in der durchgängig Altersarmut herrscht.“

Ältere ziehen nach

Die Banken würden langsam auf den Zug aufspringen und diesen Leuten Kredite gewähren. Die Immobilienwirtschaft sei noch gefragt: „Diese Leute suchen Wohnungen, die barrierefrei, nachhaltig und erschwinglich sind.“ Abseits der Ballungszentren ließen sich solche Wohnträume leichter verwirklichen – wenn es Angebot gäbe. Zudem würden die Senioren gern in der Nähe ihrer Familien leben. Wenn sich also junge Familien auf dem Land ansiedeln, würden die Älteren nachkommen.

Die Immobilienwirtschaft müsse aufpassen, dass sie Entwicklungen nicht verschlafe, wie das die Autoindustrie beim Elektroauto mache, warnt Wenzel. In Deutschland erlebten das derzeit einige Regionen im Osten: „Da stehen plötzlich Leute mit Kaufkraft da, und es gibt zu wenig Angebot.“ (b. l.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2016)


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