Great Performance

Jeden Tag Sex mit einem anderen Mann, 365 Tage lang. Ist das Aktions- kunst – oder bloß ein ehrgeiziger Versuch, im »Guinness-Buch der Rekorde« zu landen?

Regelmäßige Leser kennen meine enzyklopädische Unkenntnis der postmodernen Kunstwelt. Insbesonders der Performancekunst bin ich durch tiefes Nichtverstehen verbunden. Manchmal berührt mich etwas. Viel öfter machen mir die Aktionen aber bloß den Eindruck, als dränge es den Künstler bloß in eines der abseitigeren Kapitel des „Guinness-Buch der Rekorde“. Es gibt eine innere Verwandtschaft zwischen, sagen wir, der Kunstprofessorin Marina Abramović, die im Museum of Modern Art 721 Stunden schweigend an einem Tisch gesessen ist – und dem gehobenen Wirtshausmusiker Thomas Schmelzle, der 2009 den Weltrekord im Dauerakkordeonspielen aufgestellt hat.

Über einen neuen Stern am Performancehimmel haben nun ganz aufgeregt die deutschen Medien berichtet. Ich meine nicht das württembergische Bad Schussenried, das am 4. Oktober mit 2780 Trachtenträgerinnen einen neuen Dirndl-Weltrekord aufstellen möchte. Sondern vielmehr den in Berlin lebenden Performancekünstler Mischa Badasyan. Dieser hat angekündigt, in der Aktion „Save the Date“ an jedem der nächsten 365 Tagen mit 365 verschiedenen Männern Sex zu haben. Damit will Badasyan die Leere und Einsamkeit ausloten, die heute in den Kulturen des schwulen One-Night-Stands lauern. Wohl wegen dem darin schlummernden pädagogischen Potenzial steuert die Aids-Stiftung als Sponsor Kondome bei.

Mir ist da der Satz eines deutschen Politikers in den Sinn gekommen: Es nützt nichts zu sagen, der Kaiser ist nackt!, wenn er sich nicht geniert. Badasyan hat allerdings einen Genierer. Er will seinen täglich wechselnden Kurzzeit-Partnern nicht sagen, dass die soeben stattgefundene Tätigkeit ein Teil einer Kunstperformance war. Er möchte ihre Gefühle nicht verletzten: „What if I tell you I just had sex with you for an art project? People won't like that.“

Das hat mich – jetzt ganz ohne Ironie – gerührt. Es gibt also selbst im Kontext des anonymen, schnellen Sex ein Mindestmaß an menschlicher Würde, das Badasyan wahren möchte. Die im Akt verborgene, in Einsamkeit enden müssende Sehnsucht nach Anerkennung wird in diesem Skrupel in ihrer ganzen Tragik spürbarer als in der Performance selbst. Ob Badasyan deswegen schon ein Künstler ist, weiß ich nicht. Ich bin, wie gesagt, performancekünstlerisch unmusikalisch. Den Thai-Mönch, der sich diese Woche innerhalb von 72 Stunden in einem Sarg mit Luftlöchern vor großem Publikum zu Tode meditieren wollte und daran von der Polizei brüsk gehindert wurde, habe ich zuerst auch für einen Performancekünstler gehalten. Der Mann hat es aber ernst gemeint.


Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2014)

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