Einer von uns oder keiner von uns

Ein offener Brief und ein Blick in die Geschichte machen deutlich, warum der Armeniergenozid kein Genozid gewesen sein darf.

Sie können nicht nur die Armenier anhören und uns verurteilen.“ Dieser Satz ragt aus dem offenen Brief an den Nationalrat heraus, den „in Österreich lebende türkischstämmige Menschen“, vertreten durch 29Vereine, in heimischen Zeitungen veröffentlicht haben. Es geht um den Streit, ob die Verfolgung der Armenier 1915/16 ein Völkermord war oder nicht. Ein Streit, in dem sich viele Türken um genau jene nationale Würde bringen, die sie verteidigen wollen.

„Uns verurteilen.“ Uns? Die in Österreich lebenden türkischstämmigen Menschen? Nicht einmal „die Türken“ oder „das türkische Volk“ hat der Nationalrat verurteilt. Er spricht nur von den „im Osmanischen Reich begangenen Verbrechen“ und von der Pflicht „der Türkei“, sich der „Aufarbeitung ihrer Vergangenheit“ zu stellen.

Warum können wir den Genozid an Juden und Roma als solchen wahrnehmen und unsere Verantwortung thematisieren, ohne „uns“ verurteilt zu fühlen? Auch, weil wir uns da auf eine Diskontinuität unserer nationalen Identität berufen können. Die Nazi-Zeit ist ein Fremdkörper in unserer Geschichte, von dem sich die Zeit danach klar abgegrenzt hat. Bei den Türken geht das nicht so leicht.

Der Armeniergenozid steht am Beginn – als aus dem sterbenden Osmanischen Vielvölkerreich die türkische Nation geformt wurde. Als Mustafa Kemal Atatürk es unternahm, aus 40 Ethnien mit diversen Spielarten des Islam und unterschiedlichsten Dialekten eine Nation mit einem Glauben und einer Sprache zu schmieden, lag die Säuberung von den christlichen Armeniern zwar schon fünf Jahre zurück, aber sie war das Muster, dem Kemal in abgeschwächter Form bei der Vertreibung der Griechen, dem Krieg gegen Armenien 1920 und der Türkifizierung der Kurden folgte. Viele Minister Kemals waren Veteranen des Armeniergenozids. Kemal machte das Haus eines vertriebenen Armeniers zum Amtssitz des türkischen Präsidenten: keine Abgrenzung, sondern Kontinuität.

Die türkische Nation ist bis heute ein prekäres Gebilde voller Widersprüche. Kein Wunder, dass man das Gründungsnarrativ, auf dem das Türke-Sein aufbaut, unbeschädigt halten will. Wer die Jungtürken von 1915 anklagt, verurteilt „uns“ Türken heute! Versöhnung setzt das Anerkennen dessen voraus, was war. Die kemalistische Tradition, die die türkische Nation über den Islam definiert, wird die nötige Distanzierung von den Drahtziehern von damals und ihren Motiven nicht schaffen. Es ist bedauerlich, dass diese Tradition auch unter türkischstämmigen Österreichern so nachhaltig wirkt. Das zu ändern wird aber auch Fingerspitzengefühl brauchen.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2015)

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