Menschenwürde

Leichenfotos sollten tabu sein. Aber es entspricht auch nicht der Würde der Toten im Kühltransporter, sie bloß als Symbolfiguren des europäischen Politikversagens zu behandeln.

Das geschmacklose Bild der „Krone“ mit toten Flüchtlingen ist nur das eklatanteste Beispiel dafür, wie schwer es ist, angemessen zu reagieren. Im „Kurier“ etwa malt sich ein Kommentator aus, wie es sich im Todes-Lkw angefühlt haben muss, und liefert damit Bilder im Kopf – die im Berichtsteil durch Schilderungen, wie sich das Ersticken abspielt, unterfüttert werden... Wann befriedigt man Voyeurismus und wann ein berechtigtes Informationsbedürfnis? Aus meiner langjährigen Redaktionserfahrung kann ich nur sagen: Die Grenze zu ziehen ist sehr schwer. Ähnliches gilt für die Wortmeldungen. Wo ist die Grenze zwischen dem Versuch, aus einem Einzelereignis sinnvolle Konsequenzen abzuleiten und nach den Schuldigen zu suchen – und der Versuchung, eine Tragödie der eigenen Agenda dienstbar zu machen? Wie ist es etwa mit Johannes Voggenhubers „Standard“-Kommentar, der so beginnt: „Nein und tausendmal nein, diese unfassbare Tragödie ist nicht das Werk von Schleppern“, sondern „einer Politik, die Flucht [...] mit allen Mitteln vereitelt“? Solche Polemik wird der Würde der Opfer auch nicht gerecht, die ein persönliches und nicht bloß ein typisches Schicksal hatten. In Momenten großer Emotion gehört nicht jede Formulierung auf die Goldwaage – aber es ist wichtig, eine konkrete Untat zu unterscheiden von den Umständen, die sie möglich gemacht haben.

Die Würde der 71 verlangt, dass wir sie als reale Menschen sehen, die an einem bestimmten Tag zwischen Kecskemet und Parndorf Opfer konkreter Verbrecher wurden. Jeder der Toten eine unwiederbringliche, einzigartige Personen und nicht bloß eine rote Ziffer in der Misserfolgsbilanz europäischer Politik. Darum ist es auch nicht angemessen, wenn Kommentatoren sagen: Sich jetzt über die 71 aufzuregen, wo doch im Mittelmeer täglich so viele sterben, ist Heuchelei. Denn das ist es eben nicht.

Wenn uns das Einzelschicksal dieser Menschen nicht anrührt, die vor unserer Haustüre von Schleppern umgebracht wurden, dann wird uns auch nicht die Tatsache bewegen können, dass es noch viele andere wie sie gibt und geben wird, wenn sich die europäische Politik nicht ändert. Ja, die europäische Politik ist eine Schande. Ja, die Toten auf der A4 sind nur ein Bruchteil der Opferbilanz. Aber lassen wir Herz und Gedanken ein bisschen bei den 71 verweilen, bei ihren Hoffnungen, ihrem persönlichen Leid, und erweisen wir ihnen die letzte Ehre, weil ihr Tod uns nahegegangen ist und uns damit auch ihr Leben – allzu spät – nahe geworden ist. So werden sie, auch ohne, dass wir sie dazu machen, Mahnmale der Menschenwürde.
Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2015)

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