Unfreie Kinderzeit

Ein Fall in England sorgt für Diskussion: Sind Eltern, die ihre Kinder allein in die Schule radeln lassen, sträflich leichtsinnig? Oder mutige Erzieher freier Menschen?

Müssen Kinder vom Baum fallen dürfen? Sich im Regen verkühlen dürfen? Wie viel Freiheit ist gut, wie viel Risiko vertretbar? Vorige Woche war hier schon die Rede von dem Trend unserer Gesellschaft, der Sicherheit absolute Priorität einzuräumen. In der Verkehrspolitik heißt das Zero-Accident-Prinzip. Und in der Kindererziehung wird das Thema so richtig spannend.

Ein Fall aus England macht das deutlich. Keine Sensation, aber doch eine Episode, die Anfang Juli breit diskutiert wurde, sogar im Fernsehen: Oliver und Gillian Schonrock in Dulwich wurden von der Schule ihrer Kinder (acht und fünf) gewarnt, dass das Direktorium Anzeige erstatten wird, wenn die Kinder weiterhin allein, also unbeaufsichtigt, den 1200 Meter langen Schulweg auf dem Rad zurücklegen. Der Weg führt großteils über einen Gehweg; in der Mitte müssen sie allerdings eine Kreuzung überqueren, die von einer Schülerlotsin überwacht wird.

Die Schule sagt, sie sei zur Anzeige verpflichtet, wenn Kinder in Gefahr sind. Die Mutter erklärt, dass die Kinder stufenweise darauf vorbereitet wurden, Verantwortung zu übernehmen, und für ihr Alter ziemlich reif und unabhängig seien: Und sie fragt: „Hat der Staat das Recht, die Schulen dazu zu veranlassen, überhaupt kein Risiko mehr zu erlauben?“ Der Vater ist gebürtiger Deutscher und selbst mit sechs Jahren regelmäßig ins Schwimmbad geradelt. „Wir alle“, so sagt er, „haben viel mehr mit unseren Freunden auf der Straße und im Park gespielt – ohne elterliche Überwachung und ohne, dass sich unsere Eltern über die Maßen Sorgen gemacht hätten.“ Heutzutage würden die Kinder „so reglementierte Leben leben. Sie können nichts mehr tun, was nicht vorher genau geplant worden ist.“

Ein besonderer Aspekt dabei ist, dass es dabei nicht nur um die Angst vor Verkehrsunfällen geht, sondern auch vor Pädophilen – „stranger danger“ sagt man dazu jetzt in England. Alle diese Gefahren sind real – aber rechtfertigen sie die große Glasglocke über unseren Kindern? (Und rechtfertigen sie einen Generalverdacht gegen Erwachsene?) Und ab welchem Risiko muss der Staat einschreiten?


Natürlich ist die Frage legitim, ob fünf Jahre nicht wirklich noch ein bisschen früh ist. Dass der Fall so breit und kontrovers diskutiert wird, zeigt aber, dass da offenbar mehr dahinter ist. Erich Kästners Wort „Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich“ ist sicher kein Trost, wenn einem Kind etwas Schlimmes zugestoßen ist. Aber es ist eine gute Erinnerung daran, dass es keinen Sinn macht, Kinder in Watte zu packen. Auch wenn „die einfache Freiheit unserer Kinderzeit“, um deren Rückeroberung es Herrn Schonrock geht, in der ultimativen Leidvermeidungskultur einer Hochsicherheitsgesellschaft als subversiv verstanden werden muss.

michael.prueller@diepresse.com 

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.07.2010)

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