Die Würde des Mannes

Ein Dekolletéverbot wünscht sich ein türkischer Professor. Damit die Frauen nicht mehr die Männer einladen, sie zu belästigen. Sein Land ist empört.

In der Türkei herrscht gerade große Empörung über den Theologieprofessor Orhan Ceker, der gesagt haben soll, dass dekolletierte Frauen selber schuld seien, wenn sie vergewaltigt würden. Später hat er durch seinen Anwalt eine Richtigstellung abgegeben: Eine Vergewaltigung sei immer nur die Schuld des Vergewaltigers, aber bei bloßer Belästigung sei das etwas anderes: „Wenn eine Frau ihr Dekolleté zur Schau stellt und sich anzüglich verhält, dann liegt die Schuld bei beiden.“

Das ist ja nun wohl wirklich keine türkische oder muslimische Spezialität. Bei uns sagen das vielleicht keine Universitätsprofessoren, aber ich würde jetzt nicht für jeden die Hand ins Feuer legen, dass er sich nicht so was manchmal denkt. „Wer sich so anzieht, darf sich nicht wundern, wenn...“ Zwischen wundern und Mitschuld tragen ist freilich ein großer Unterschied. Wer nachts durch den dunklen Park geht, darf sich auch nicht wundern, wenn er überfallen wird. Aber er ist deswegen noch lange nicht schuld am Überfall.


Wir kennen das alles. Trotzdem gibt es auch hier eine Culture-Clash-Komponente. Unsere Empörung über die Klassifizierung des Dekolletés hat etwas Kulturimperialistisches. Auch bei uns gibt es schließlich Grenzen der Schicklichkeit, auch wenn man hier schon ziemlich nackt in der Öffentlichkeit herumspazieren muss, um sich dem Verdacht der Schamlosigkeit auszusetzen. Anderswo sind die Grenzen halt enger. Wir mögen das lächerlich finden, aber frauenfeindlich ist das per se noch nicht.

Nur: Was in der jeweiligen Kultur als schamlos gilt oder nicht, tut hier gar nichts zur Sache. Klar wird das an des Professors Forderung, „alles, was zu einer Belästigung einlädt“ sollte verboten werden. Denn eine Einladung zur Belästigung gibt es nicht. Kann es nicht geben. Belästigung ist begriffsnotwendig etwas, was der Belästigte nicht will. Und darum gilt als der Ansatz der zivilisierten Welt, dass das Recht die Schamlosen ebenso wie die nur vermeintlich Schamlosen vor Belästigungen zu schützen hat.

Natürlich gibt es den Fall, wo ein Mann die aufreizende Kleidung einer Frau als Einladung zu Intimitäten auffasst. Gelegentlich legt es ja tatsächlich eine Frau darauf an, einen Mann zu verführen. Der Umstand, dass seit Tagen in der Türkei Herrn Professor Ceker Hohn und Empörung entgegenschlägt, zeigt allerdings, dass man auch dort weiß, dass das Wort „nein“ ein recht guter und zu berücksichtigender Indikator für das ist, was eine Frau will. Und dass man auch in der Türkei die Männer nicht so niedrig einschätzt, dass sie durch den Anblick eines Brustansatzes bis zur Teilunzurechnungsfähigkeit aufgereizt zum unfreiwilligen Grapscher mutieren. Mit Orhan Ceker ist es die alte Geschichte: Wer die Würde der Frau untergräbt, hat meistens auch die Würde des Mannes nicht verstanden.

michael.prueller@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2011)

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