Kirchenmisere

Poch, poch, die Wahrheit ist da. Gibt es in der Kirche nicht nur erstarrte Strukturen, sondern auch erstarrte Erstarrungs-Kritiker? Und was bestellt Hans Küng eigentlich in Restaurants?

Die Hamburger „Zeit“ titelt aktuell: „Ist die Kirche noch zu retten? Wie das Christentum in der modernen Gesellschaft ums Überleben kämpft.“ Im Blattinneren geht es dann natürlich nicht um das letzte Gefecht einer Religion, der 62 Prozent aller Deutschen angehören (und man muss ja auch ehrlich sagen: Würde das Christentum in einer freien Gesellschaft tatsächlich ums Überleben kämpfen müssen, hätte es ohnehin keine Daseinsberechtigung), sondern um den Strukturwandel der Kirchen.

Die Kirchenmisere wird da auf eineinhalb Seiten über die Protestanten und eineinhalb Seiten über die Katholiken ausgebreitet. Letzteres in Form eines Interviews mit Hans Küng, dem Doyen aller Aufbegehrenden. Das hat Erkenntniswert. Man liest staunend, wenn die beiden „Zeit“-Journalisten nach ihrer Frage: „Was finden Sie erhaltenswert an der Kirche?“ und Küngs Antwort: „Das Bleibende ist natürlich die Wahrheit. Um nichts Geringeres geht es ...“, überraschend weiterfragen: „Warum pochen die Neo-Klerikalen (das sind die Bösen, Anm.) aber so auf ihre ,Wahrheit‘? Wovor haben sie Angst?“ Und statt dass Küng protestiert: „Nein, nein, das war ich. Ich poche auf die Wahrheit“, bringt er nur die, wie man dort oben sagen würde, olle Kamelle, dass die Bösen Angst vor der Freiheit hätten.

Und dann kommt ein Moment der Offenbarung. Auf die Frage, was auf einem Aktionsprogramm aller Reformkräfte stehen sollte, sagt der alte Kämpe: „Zunächst vier besonders dringende Punkte. Erstens: Zölibat freiwillig. Zweitens: Frauen in die Ämter. Drittens: Abendmahlsgemeinschaft mit den Protestanten. Viertens: Wiederverheiratete Geschiedene zur Eucharistie zulassen.“ Darauf entgegnen sogar die beiden Interviewer etwas baff: „Das sind aber keine zentralen Fragen des Glaubens.“

Nicht einmal solche der Kirche: Vor dem Küng-Interview ist eine ganze Seite über das Elend der Protestanten in Deutschland zu lesen, deren Reihen sich ja noch schneller lichten als die der Katholiken – und bei denen sind längst der Zölibat freiwillig, die Frauen in Ämtern, das gemeinsame Abendmahl kaum und wiederverheiratete Geschiedene gar kein Thema. Es mögen ja alle vier Forderungen theologisch richtig sein (ich bin zwar nicht der Ansicht, aber was verstehe ich schon davon) – eine Lösung für die Probleme einer implodierenden Volkskirche sind sie aber ganz offensichtlich nicht.

Manchmal beschleicht einen das Gefühl, Hans Küng und seine Freunde würden auch, wenn sie nach den sieben Weltwundern, ihrer Einkaufsliste oder ihren Wünschen im Restaurant gefragt würden, stets antworten: „Erstens: Zölibat freiwillig ...“ Kann es auch so etwas wie einen erstarrten Reformismus geben?

michael.prueller@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2011)

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