Dem Tod zuvorkommen

Ein australisches Spital entschuldigt sich für die Tragödie eines letalen Kunstfehlers. Aber nicht nur der Fehler war tragisch und letal.

Es ist nicht einfach, darüber zu schreiben; verzeihen Sie mir, wenn ich den gebotenen Ton nicht treffen sollte: In Australien hat eine Mutter Zwillinge erwartet. Einer der beiden hatte einen Herzfehler, der – sofern der Bub überhaupt lange genug gelebt hätte – jahrelang Operationen nötig gemacht hätte. Der Mutter wurde dringend geraten, das kranke Kind in der 32. Schwangerschaftswoche abzutreiben. Versehentlich töteten die Ärzte durch Herzinjektion aber das gesunde Kind. Danach musste, wie australische Zeitungen schreiben, „die Mutter noch eine längere Kaiserschnittoperation erdulden, um auch das Leben des kranken Kindes zu beenden“.

Nicht nur der konkrete Fall, auch die Rezeption gibt mir zu denken. Zum Beispiel der verschämte Gleichmut dem Faktum gegenüber, zu welchem Schlachtfeld die gynäkologischen Abteilungen mancher Krankenhäuser geworden sind. Ein Kaiserschnitt „to end the life of the sick foetus“: Was tun da die Ärzte? Wurde der Fötus, ein Acht-Monate-Baby, während des Kaiserschnitts getötet, oder danach – oder ist er dabei von allein gestorben?

Das andere ist die Logik, dass es besser ist, ein Kind zu töten, als ihm Leid – hier eine Serie gefährlicher Herzoperationen – zuzumuten. Ist denn nicht jede Geburt der Anfang eines – potenziell schweren – Leidensweges? Die Zeitungen nennen als Grund für die Empfehlung zur Abtreibung auch, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit des Kindes eingeschränkt gewesen sei. Aber stirbt nicht jeder Mensch? Warum ist ein 80 Jahre langes Leben einen ungeheuren medizinischen Aufwand wert, aber ein Leben, das nur drei, fünf, zehn Jahre dauert, gar nichts? Im Mittelalter hatte jedes geborene Kind eine Wahrscheinlichkeit von weniger als 50 Prozent, das 15. Lebensjahr zu erreichen. Mit der heutigen Mentalität wären wir damals ausgestorben.

Es ist ein kaum zu bewältigender Schmerz, sein Kind schwer leiden und sterben sehen zu müssen. Ich wünsche das niemandem und bin dankbar, dass mir das bisher erspart geblieben ist. Aber dass das heute selbstverständlich als Grund angesehen wird, das Leben des Kindes selbst zu beenden? Ist nicht das eigentlich Menschliche gewesen, um jeden Tag Leben zu kämpfen? So wie Edith Piaf in einem ihrer letzten, berührendsten Lieder mit Gott um noch ein bisschen Zeit mit ihrem Geliebten ringt: „Sechs Monate, drei Monate, zwei Monate . . . Lass ihn mir doch noch für nur einen Monat!“

Die Tragödie beginnt, wenn im Sprechzimmer keiner der Mutter zuredet und ihr Hilfe im Kampf im und um das Leben ihres Kindes zusagt: „Wir stehen das gemeinsam durch!“


Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2011)

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