Glaubenswahrheit ist keine objektive Größe

Glaubenswahrheit keine objektive Groesse
Glaubenswahrheit keine objektive Groesse(c) AP (Alessandra Tarantino)
  • Drucken

Zu den Herausforderungen des neuen Papstes zählt, die Kirche fit für Pluralismus zu machen. Zur schwierigen Frage nach Orientierung.

Die Kirche steht als weltumspannende Institution aufgrund unterschiedlicher und ungleichzeitiger Entwicklungen in verschiedenen Kontinenten, Ländern und Regionen vor großen Herausforderungen. Das Christentum muss in seinen unterschiedlichen konfessionellen und kulturellen Ausprägungen seine Gestalt in der jeweiligen Zeit und an den jeweiligen Orten immer wieder neu suchen und finden. Dies hat Auswirkungen auf die Leitungsfrage. Die nun anstehende Papstwahl ist Anstoß, darüber nachzudenken, wie dieses Leitungsamt beschaffen sein soll, damit die römisch-katholische Kirche im Umgang mit den Zeichen der Zeit manövrierfähig bleibt. Exemplarisch soll dies aus europäischer Perspektive an einigen Punkten verdeutlicht werden.

Ein Kennzeichen moderner Gesellschaften und globaler Entwicklung ist, dass sich homogene Milieus zunehmend auflösen; in manchen Teilen dieser Welt schneller als in anderen. Die damit einhergehende kulturelle und religiöse Vielfalt stellt die römisch-katholische Kirche einerseits in Konkurrenz mit anderen Sinnanbietern. Andererseits verlangt es ihr auch für den kirchlichen Binnenbereich Pluralitätskompetenz ab. Hinsichtlich der zentralen Aufgabe des Papsttums, Sorge für die Einheit der Kirche zu tragen, stellt sich die Frage, wie dies sinnvoll bewältigt werden kann.

Die römisch-katholische Kirche ist in der derzeitigen Realverfassung sehr eurozentrisch organisiert. Mit einem zukünftigen Papst aus dem afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Kontext könnte diese Verengung auf andere Sicht- und Lebensweisen hin geweitet werden. Dies wäre aber nur dann der Fall, wenn diese Person auch bisher schon das Christentum in konstruktiver Auseinandersetzung mit ihren Herkunftstraditionen und -kulturen gelebt und nicht nur als verlängerter Arm einer römischen Sichtweise agiert hat. Dass die Botschaft Jesu Christi in den unterschiedlichen kulturellen Kontexten ihre je spezifischen Ausformungen erhält und auch unabdingbar benötigt, muss als Chance zur Verlebendigung der einen Kirche und nicht als Bedrohung von Einheit Gestalt gewinnen.

Pluralitätskompetenz im innerkirchlichen Bereich zu entwickeln, stellt aber nicht nur eine Herausforderung an den zukünftigen Papst dar, sondern fordert die Kirche als Ganzes heraus. Dazu ist es notwendig, dass Fähigkeiten entwickelt werden, die im Vertrauen auf die Wirkmächtigkeit der Botschaft Jesu Christi die ernsthafte und nicht nur ab- und ausgrenzende Begegnung und Auseinandersetzung mit unterschiedlichen christlichen und außerchristlichen Positionen und Lebensformen suchen.

Pluralitätsfähigkeit bedeutet dann, sich auf die Suche nach der Wahrheit aus dem vertrauten und bekannten Terrain eines homogenen monokonfessionellen Milieus hinauszuwagen und sich auch auf das widerständige und widerspenstige bis hin zum widerwärtigen dieser Welt einzulassen, um darin die Botschaft Gottes zu vernehmen. Dies schließt an die jesuanische Praxis an, die sich den Ausgestoßenen bedingungslos zuwandte und daran das Evangelium konkret werden ließ. Weil Jesus sich den Menschen an den Rändern der Gesellschaft nicht nur individuell heilend zuwandte, sondern in ihrem Hereinholen in die Gemeinschaft aufdeckte, wo menschenverachtende Mechanismen am Werk sind, war damit auch eine massive Kritik an bisherigen Traditionen und Normen verbunden. In Zukunft wird vermehrt gefordert sein, Kritik als Problemanzeige wahrnehmen zu können.


Einholung in die Zeit. Die Botschaft Gottes in der Hl. Schrift wurde in historisch-kontextueller Gestalt überliefert und verlangt deshalb auch nach kontextueller Einholung in der jeweiligen Zeit. Dies hat die Notwendigkeit zur Folge, bisher gültige und plausible Sichtweisen infrage zu stellen und auf neue Erkenntnisse hin offen zu werden. Im Widerständigen auch das Wirken des Geistes Gottes erkennen zu können, erzwingt gewissermaßen eine Neubesinnung auf die Fragen, wer der Mensch vor Gott ist und sein darf und woran sich kirchenamtliche Äußerungen im Dienst an der Einheit vorrangig zu orientieren haben.

So könnte sich – um ein Beispiel zu nennen – an den aktuellen Diskussionen um neue Lebens- und Beziehungsformen die Frage stellen, ob vorrangig weiterhin eine Orientierung an sexualmoralischen Normen oder nicht vielmehr eine Orientierung am Wert liebevoller tragfähiger Beziehungen auf Dauer erfolgen soll. Ein Perspektivenwechsel dieser Art könnte dazu führen, dass man nicht nur über die Betroffenen, sondern mit ihnen redet. Über deren Motive und Erfahrungen ließe sich erkunden, dass viele ihre Lebensform nicht immer frei gewählt haben, sondern diese das Produkt unterschiedlicher Erlebnisse und Lebensentwicklungen darstellt; so z.B. auch bei Menschen aus sogenannten „Regenbogenbeziehungen“, deren Erfahrungen sich erst im Laufe des Lebens, oftmals über den Umweg größter Schwierigkeiten und Enttäuschungen bis hin zu menschenverachtenden Diskriminierungen, zu einer Gewissheit für ihre Empfindungen verdichtet haben. Statt der Angst vor der Gefährdung traditioneller Ehe- und Familienformen sollte die Frage nach der schöpfungstheologischen Absicht solcher Empfindungen in den Vordergrund treten und zu neuen Antworten drängen. Dienst an der Einheit würde bedeuten, diesen Perspektivenwechsel zuzulassen und zu fördern. Eine Kirche, die gelernt hat, mit der Spannung, dass die Botschaft Gottes in verschiedenen Kontexten in notwendiger unterschiedlicher Schwerpunktsetzung ausgelegt und gelebt wird, konstruktiv umzugehen, erweist sich zudem als kompetente Ansprechpartnerin über die Grenzen der Kirche hinaus.

Ein konstruktiver Umgang mit Vielfalt innerhalb der römisch-katholischen Kirche, der neben dem Bemühen um Verstehen auch den Umgang mit Konflikten einschließt, sensibilisiert für die Anforderungen im Hinblick auf die kleine wie die große Ökumene. Eine Kirche, die nach innen pluralitätsfähig ist, kann auch nach außen als ernst zu nehmende Gesprächspartnerin auftreten, ohne Ängste der Vereinnahmung zu verbreiten oder sich selber durch Verlustängste zu behindern.

Dieser angesprochene Perspektivenwechsel macht deutlich, dass ein Verständnis von Kirche als Hüterin der Wahrheit dem dynamischen Aspekt des Entdeckens von Wahrheit Geltung verleiht. Glaubenswahrheit stellt keine objektive Größe dar, die den Menschen von einer höheren Instanz nur vermittelt werden müsste, sondern sie muss glaubend erfahren werden können. Im Bewusstsein, dass die Wahrheit in Jesus Christus sich auf ihre Erfüllung zubewegt und letztgültig erst eschatologisch einholbar ist, kann auch die Kirche auf Wahrheit nicht im Sinne eines festen Besitzes verweisen.

Vielmehr kommt ihr die Aufgabe der Wahrheitsfindung zu, die sie dazu herausfordert, sich auf die beständige Suche nach Wahrheit zu begeben und die Menschen in ihrer Suche zu begleiten und zu unterstützen.


Wahrheit auch in anderen Religionen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat zudem richtungsweisend formuliert, dass die Wahrheit sich auch in den anderen Religionen finden lässt. Somit ist eine Kommunikation mit anderen Religionen auf Augenhöhe ein Gebot der Stunde, um den Prozess der Wahrheitssuche aufrechtzuerhalten.

Weil sich Wahrheit nicht definitorisch festhalten lässt, sondern bewähren muss, hat dies auch weitreichende Auswirkungen auf das Verständnis von Tradition. Mit Wahrheitsfindung kommt das prozessuale Moment von Tradition ins Spiel. Damit die Botschaft Jesu auch den Frauen und Männern der Gegenwart zugänglich ist, gilt es, dieses dynamische Verständnis gegenüber einem statischen Missverständnis starkzumachen, welches im unveränderlichen Bewahren althergebrachter Riten, Glaubenssätze und Glaubensvollzüge die christliche Religion zu einem Mausoleum erstarren lässt. In Auseinandersetzung mit der Welt soll die Botschaft Jesu Christi in transformierter Form als widerständiger Impuls, als Gegenrede oder als Ermunterung in die Weltgemeinschaft eingespeist werden: überall dort, wo wirtschaftliche Interessen vor das Wohl der Menschen gestellt werden, wo die ökologischen Veränderungen die Lebensgrundlage für nachkommende Generationen bedrohen oder wo Menschen durch Gewalt, Flucht, Armut an einem menschenwürdigen Leben gehindert werden; aber auch dort, wo Menschen auf Vorteile und Profit verzichten und sich für andere einsetzen.

Ein Papst, der auch im 21. Jahrhundert gehört werden möchte, muss deutlich machen, dass Tradition nicht in der Rückwärtsbewegung verharrt, sondern aus dem Rückgriff auf die Botschaft Jesu Perspektiven für ein menschenfreundliches Leben zu entwickeln und mit Verweis auf die Autorität Gottes gegenüber menschenfeindlichen Entwicklungen aufzutreten vermag.

Die Autorin

Andrea Lehner-Hartmann ist Professorin für praktische Theologie an der Universität Wien. Ihr Beitrag erscheint in dem neuen Buch „Du bist Petrus“ (Styria Premium Verlag), in dem „Furche“-Herausgeberin Gerda Schaffelhofer Texte zu Anforderungen und Erwartungen an den neuen Papst gesammelt hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.