Ein Hipphipphurra für den Gluckenstaat!

Hipphipphurra fuer Gluckenstaat
Hipphipphurra fuer Gluckenstaat(c) AP (Paul Sakuma)
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In New York ist vor Kurzem das Verbot von Ein-Liter-Bechern zuckerhaltiger Softdrinks gescheitert. Zum Ende der Fastenzeit: Warum es unsinnig ist, das zur Kernfrage der Freiheit zu stilisieren.

Warum wurde so viel Aufheben um den Versuch des Staates New York gemacht, Softdrinks zu verbieten – oder, genauer gesagt, XXL-Zuckergetränke zu verbieten? Trotz allem hätten die Leute noch immer so viel Limonade bekommen, wie sie wollten, es wäre nicht die Prohibition gewesen – mehr von den Getränken zu bekommen, wäre einfach nur ein wenig schwieriger geworden. Warum also die große Aufregung?

Weil es offensichtlich nicht um Softdrinks geht. Sondern darum, dass ein Verbot impliziert, dass wir manchmal davon abgehalten werden müssen, dumme Dinge zu tun – und das ist im gegenwärtigen Amerika höchst kontroversiell, ganz egal, wie nichtig der konkrete Fall sein mag. Riesenplastikbecher voller Softdrinks als Symbol für die Würde des Einzelnen? Wirklich?

Amerikaner, sogar jene, die generell für den Eingriff von Regierungen in unser Alltagsleben sind, zeigen einen automatischen Reflex, wenn ihnen jemand sagt, was sie tun sollen – und keinen positiven. Es ist dieses weitverbreitete Bedürfnis, das den Staat Mississippi vor einigen Tagen zu der extremen Maßnahme veranlasst hat, Verbote zu verbieten: Per Gesetz wurde Gemeinden untersagt, lokale Einschränkungen dafür zu beschließen, was gegessen und getrunken werden darf.


Ein nettes, falsches Menschenbild. Wir sehen in uns freie, vernünftige Wesen, die durch und durch in der Lage sind, all jene Entscheidungen zu treffen, die es braucht, um ein gutes Leben zu führen. Gebt uns komplette, umfassende Freiheit, und wenn nicht gerade eine Naturkatastrophe oder Ähnliches daherkommt, werden wir genau dort landen, wo wir hinwollen. Das ist eine schöne Vision, ein nettes Menschenbild; eines, das uns stolz auf uns selbst macht. Aber es ist falsch.

John Stuart Mill hat 1859 geschrieben, dass der einzige gerechtfertigte Grund, in jemandes Freiheit einzugreifen, der sei, Schaden für andere abzuwenden. Nach Mills „Schadensprinzip“ sollten wir Menschen fast niemals von Verhaltensweisen abhalten, die nur sie selbst betreffen, weil die Leute schon selbst am besten wissen werden, was sie für sich selbst wollen.

Dieses „fast“ ist aber sehr, sehr wichtig. Denn es wäre fair und gerechtfertigt, so Mill, uns aufzuhalten, wenn wir aus Unwissenheit heraus handeln und etwas tun, das wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereuen werden. Man kann etwa jemanden davon abhalten, eine brüchige Brücke zu betreten, weil man ziemlich sicher sein kann, dass niemand in den Fluss stürzen wolle, sagt Mill. Er ist nur eben davon ausgegangen, dass solche Situationen nicht allzu oft vorkommen würden.

Damit hatte er allerdings unrecht. Wir haben sehr oft eine gute Vorstellung davon, wo wir hin wollen – aber einen wirklich schrecklichen Plan davon, wie wir dorthin gelangen möchten. Wir können mittlerweile als gegeben voraussetzen, dass wir oft nicht besonders klar denken, wenn es darauf ankommt, die richtigen Mittel einzusetzen, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Wir machen Fehler. Diese Tatsache war in den vergangenen Jahrzehnten Gegenstand zahlloser Studien und das (vorhersehbare) Ergebnis war stets: Wir alle sind anfällig für Fehleinschätzungen, so klar und vorhersehbar diese im Nachhinein auch wirken mögen.


Von wegen freier Wille. Forschungen von Psychologen und Verhaltensökonomen wie Nobelpreisträger Daniel Kahneman und seinem Forschungspartner Amos Tversky haben eine Reihe an Gebieten ausgemacht, in denen wir ziemlich regelmäßig die falschen Entscheidungen treffen. Sie nennen die Tendenz dazu „Kognitive Voreingenommenheit, „cognitive bias,” – und davon gibt es viele. Viele Arten, wie uns unser Bewusstsein ein Bein stellen kann.

Zum Beispiel leiden wir unter einem Optimismus-Bias: Wir denken, dass, egal, wie wahrscheinlich es ist, dass den meisten Menschen in unserer Situation etwas Schlimmes passiert, es nicht so wahrscheinlich ist, dass es genau uns zustößt. Wir nehmen das nicht aus einem bestimmten Grund an, sondern, weil wir unvernünftigerweise optimistisch sind.

Dann gibt es das Gegenwarts-Bias: Wenn wir einen kleinen, einfachen Schritt tun müssen, um für etwas Gutes in der Zukunft vorzubauen, scheitern wir daran, das zu tun – nicht, weil wir entschieden hätten, dass es ein schlechter Schritt wäre; sondern, weil wir prokrastinieren.

Wir leiden auch an einem Status-quo-Bias, der uns den Istzustand höher einschätzen lässt als die Alternativen, nur weil wir ihn schon erreicht haben – was uns natürlich, zum Beispiel gegenüber neuen Gesetzen, voreingenommen macht, auch wenn sie eine Verbesserung gegenüber dem Status quo darstellen würden. Und es gibt noch mehr von diesen „Bias“.


Wir brauchen manchmal Hilfe. Der springende Punkt ist: In manchen Situationen ist es einfach schwierig für uns, die entscheidungsrelevanten Informationen aufzunehmen, zu filtern und danach zu handeln. Das ist nicht ganz dasselbe wie die simple „Unwissenheit“, von der Mill gesprochen hat – aber es hat sich seither herausgestellt, dass unsere Gehirne wesentlich komplizierter sind, als Mill es sich vorstellen konnte. So wie der Mann, der in Mills Beispiel gerade dabei war, die brüchige Brücke zu betreten, brauchen wir Hilfe.

Ist es immer ein Fehler, wenn jemand etwas Unkluges tut, wenn er etwa – um wieder auf den Ausgangspunkt zurückzukommen – einen Liter süßen Softdrink hinunterkippt? Nein. Für manche Menschen ist das die richtige Entscheidung. Vielleicht kümmern sie sich nicht um ihre Gesundheit, vielleicht trinken sie nur in Ausnahmefällen Softdrinks, vielleicht lieben sie es einfach, eine ganze Menge Softdrink auf einmal zu schlürfen.

Aber Gesetze haben sich nach den Bedürfnissen der Mehrheit zu richten. Das heißt nicht, dass staatliche Normen über die Rechte von Minderheiten hinwegtrampeln sollten – die Richtlinie für Gesetze sollte dennoch der Nutzen für die breite Öffentlichkeit sein, selbst wenn das für manche Leute Unbequemlichkeit bedingt.

Heißt das, dass solche Gesetze bedeuten, dass manche Menschen davon abgehalten werden, was sie wirklich tun wollen? Wahrscheinlich. Und ja, es tut auf viele Arten weh, in einer Gesellschaft zu leben, die von Gesetzen gesteuert wird, wenn man bedenkt, dass diese Regeln nicht für jeden Einzelnen von uns ganz individuell geschrieben werden. Manche von uns können auch mit 90 Meilen pro Stunde noch sicher fahren (in den USA liegt die Höchstgeschwindigkeit auf Highways bei 75 Meilen pro Stunde, Anm.), trotzdem sind sie an dieselben Gesetze gebunden wie die Leute, die das nicht können – weil individuelle Geschwindigkeitslimits impraktikabel sind. Ein wenig Freiheit aufzugeben ist etwas, dem wir zustimmen, wenn wir zustimmen, in einer demokratischen Gesellschaft zu leben, die durch Gesetze regiert wird.


Ein Riesenbecher als Riesenverlust? Die Freiheit, einen wirklich, wirklich großen Softdrink zu kaufen, alles in einem einzigen, riesigen Becher, ist etwas, das wir hier zu verlieren drohen. Für die meisten Menschen ist das, wenn man das weitverbreitete Streben nach Gesundheit in die Waagschale wirft, unterm Strich ein Gewinn. Für manche aber, ja, wird es einen absoluten Verlust bedeuten. Es ist nur kein besonders großer Verlust.

Aber natürlich kommt dann die nächste große Angst ins Spiel: dass dieses Verbot nämlich nur der Anfang wäre. Heute sind es noch die Softdrinks, morgen zwingt uns die Gesellschaft dann unter Umständen schon, unseren Brokkoli aufzuessen, brav die Zähne zu putzen und anschließend täglich die „PBS NewsHour“ anzusehen. Diese Argumentationslinie übersieht, dass alle erfolgreichen paternalistischen Gesetze auf Basis einer Kosten-Nutzen-Analyse bestehen: Wenn es dem Bürger zu viel Schmerz zumutet, ist es kein gutes Gesetz. Solche Überlegungen stellen Regierungen an – und haben auch den notwendigen Apparat dazu –, so wie sie jetzt schon Standards für den Autobau vorgeben und dabei versuchen, das Bedürfnis nach Leistbarkeit und das Bestreben nach größtmöglicher Sicherheit zu vereinbaren.

Ist uns unsere Gesundheit so wichtig, dass wir täglich dazu gezwungen werden wollen, Aerobic zu betreiben und den Fleischkonsum aufzugeben sowie jenen von Zucker und Salz? Nein. Aber in diesem Fall geht es nur um ein bisschen mehr oder weniger an Softdrinks. Ein Gesetz nur deswegen völlig auszuschließen, weil es schlechtere, weitgehendere zur Folge haben könnte, würde heißen, dass wir überhaupt keine Gesetze haben dürften.


Aufhören, nach Schuld zu suchen. Früher hat man mit dem Finger auf Menschen gezeigt, die sich unklug verhalten, hat gesagt, ihre schlechten Entscheidungen waren ihre eigene Schuld – sie hätten verdient, unter den Konsequenzen leiden zu müssen. Jetzt sehen wir, dass solche Fehler nicht Ergebnis eines schlechten Charakters sind, sondern ein Ausfluss unseres gemeinsamen kognitiven Erbes. Die richtige Reaktion kann nur sein, nicht mehr nach Schuld zu suchen – sondern Impulse zu setzen, einander zu helfen.

Und genau das ist die Aufgabe der Regierung: Uns zu helfen, dorthin zu gelangen, wo wir hinwollen. Es ist nicht immer sinnvoll, in unsere Rechte einzugreifen, aber wenn der Aufwand vergleichsweise gering und der Nutzen groß ist, ist es das. Deswegen brauchen wir Rezepte, wenn wir Medikamente wollen, und deshalb wäre das Verbot der XXL-Softdrinks eine gute Idee.

Es ist schwierig, uns von der Idee zu verabschieden, dass wir durch und durch rational handeln – dieser Gedanke macht uns Angst, an Würde zu verlieren. Aber so ist es nun einmal – und es liegt keine Würde darin, sich an eine Illusion zu klammern.


Der Text erschien erstmals im englischen Original in der New York Times vom 24. März 2013 unter dem Titel „Three Cheers for the Nanny State“.
© 2013 The New York Times,
Übersetzung: Georg Renner

Sarah Conly
ist Assistenzprofessorin an der Philosophischen Fakultät des Bowdoin College in Brunswick, Maine. Die Princeton-Absolventin hat im Vorjahr das Buch „Against Autonomy: Justifying Coercive Paternalism“ im Cambridge University Press-Verlag herausgebracht, in dem sie Freiheit, alle eigenen Entscheidungen umzusetzen, als „überbewertet“ betrachtet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2013)

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