Hitler-Stalin-Pakt: Umkämpfte Erinnerungsorte

(c) Reuters (Stoyan Nenov)
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Die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt, der dem Zweiten Weltkrieg vorausging, wird in Russland verdrängt und ist in Deutschland verblasst. In Ostmitteleuropa spielt sie aber eine große Rolle.

Im mehrfachen Jubiläumsjahr 2009 nimmt der Hitler-Stalin-Pakt in der Mehrzahl der nationalen Erinnerungskulturen Europas keinen sonderlich prominenten Platz ein. Mit Ausnahme der seinerzeit unmittelbar betroffenen Nationalgesellschaften Rumänien, Polen, Litauen, Lettland, Estland und Finnland wird er in der Regel unter der Geschichtsikone „1939“ subsumiert, die für den Beginn des Zweiten Weltkriegs steht.

Dabei spielen nicht nur europaweit erodierende Geschichtsbilder im Übergang von der Zeitzeugengeneration zu nachfolgenden Generationen eine Rolle, sondern gerade auch die grenzüberschreitende Geschichtspolitik Russlands. Denn diese zielt auf ein Verdrängen und Vergessen, zumindest auf eine als „Kontextualisierung“ camouflierte Relativierung des Paktes und der Aufteilung Ostmittel- und Südosteuropas in zwei Einflusssphären bzw. Besatzungszonen.

Dass die Einsetzung einer „Kommission zur Verhinderung von Bestrebungen zur Verfälschung der Geschichte zum Nachteil der Interessen der Russischen Föderation“ in Moskau just im Mai 2009 erfolgte, stand zweifelsohne in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Jahrestag des von den Außenministern Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw M. Molotow am 23. August 1939 unterzeichneten Nichtangriffsvertrages samt Geheimem Zusatzprotokoll.

Die aktuelle russische Politik ist diesbezüglich eine dreigleisige: Erstens wird nach innen kompromisslose Kontinuität signalisiert. So verkündete Katastrophenminister Sergej K. ?ojgu Anfang Mai 2009 im staatlichen Fernsehen: „Russland ist ein mächtiges, ein reiches und großes Land. Um der eigenen Selbstachtung willen ist es notwendig, unsere eigene Erinnerung der Geschichte zu verteidigen.“

Zweitens wird den genannten Staaten Ostmittel- und Südosteuropas implizit gedroht, so etwa mit der neuen Kommission bzw. einem Gesetz, demzufolge Inländer wie Ausländer vor ein russisches Gericht gestellt werden können, wenn sie „den Anteil der Sowjetunion am Sieg über Hitlerdeutschland schmälern“. Drittens schließlich wird im Umgang mit einigen anderen europäischen Staaten, darunter Deutschland, demonstrativ Goodwill in Form von geschichtspolitischer Flexibilität demonstriert. [...]


Kartierung der Erinnerung. Hilfreich bei einer Kartierung europäischer Erinnerungsorte wie jenem des Hitler-Stalin-Pakts kann ein heuristischer Kunstgriff sein: die Übertragung der historisch-kulturell-religiösen Binnengliederung Europas durch den polnischen Exilhistoriker Oskar Halecki [...], die sein ungarischer Kollege Jenö Szücs 1983 in einem Essay mit dem Titel „The Three Historical Regions of Europe“ geringfügig modifizierte.

Halecki und Szücs identifizieren drei europäische Mesoregionen – „Westeuropa“, „Osteuropa“ und einen in der Mitte gelegenen Teil, der bei Szücs „Ostmitteleuropa“ und bei Halecki „Mitteleuropa“ heißt. Halecki untergliedert dieses „Mitteleuropa“ dann weiter in eine westliche Hälfte namens „Westmitteleuropa“ und einen östlichen Teil, der wie bei Szücs dann „Ostmitteleuropa“ heißt. [...]

Haleckis Westeuropa oder präziser der transatlantische „post-alliierte“ Raum einschließlich der USA und Kanadas ist der am klarsten konturierte: Hier ist der 23. August 1939 als Datum der Aufteilung des östlichen Europa in eine nationalsozialistische und eine sowjetische Hälfte in staatlicher Geschichtspolitik wie öffentlich-zivilgesellschaftlicher Erinnerungskultur so gut wie nicht präsent. Vielmehr ist er überlagert von der Erinnerung an das Kriegsbündnis der „Großen Drei“, vom Gedenken an den gemeinsamen Kampf der Mächte der Anti-Hitler-Koalition gegen das Dritte Reich, an den D-Day 1944 und den V-Day 1945, desgleichen vom Holocaust. Am deutlichsten ist dies an der Sicht auf Stalin als zwar brutalen, aber zugleich verlässlichen „Uncle Joe“ erkennbar, die in einem krassen Gegensatz zur Hassfigur Hitler steht. [...]

Westmitteleuropa, also vor allem das geteilte wie das wiedervereinigte Deutschland, ist ebenfalls rasch skizziert. Hier sind der Hitler-Stalin-Pakt und die deutsch-sowjetische Unterjochung Ostmitteleuropas von 1939 bis 1941 lediglich eine blasse Erinnerung, die weitgehend überlagert wird vom Geschehen der Jahre 1941 bis 1945, d.h. vom „Vernichtungskrieg im Osten“, von „Auschwitz“, „Bombenkrieg“, Flucht und schließlich vom „8. Mai“ als Symbol für Niederlage, „Zusammenbruch“, Besatzung und Teilung, aber auch Befreiung von einem tyrannischen Regime und im Westen Deutschlands für Demokratisierung und wirtschaftlichen Wiederaufschwung.

Hinzu kommt, dass aus westdeutscher wie heute gesamtdeutscher Sicht auf den Zweiten Weltkrieg die Verantwortung für die Verbrechen von Wehrmacht, Einsatzgruppen und SS auf dem Territorium der UdSSR Kritik an Stalin als Bündnispartner Hitlers dämpft – und dass dies auch deutliche erinnerungskulturelle Wirkungen in Form einer memorialen Beißhemmung zeitigt. Dass etwa die Wehrmacht und die Rote Armee 1939 im besetzten Polen gemeinsame Paraden abhielten und der NKWD und die Gestapo dort 1940 Koordinierungstreffen durchführten, gehört nicht zum bundesdeutschen Geschichtsbild.

Ostmitteleuropa stellt sich demgegenüber gänzlich anders da: Hier ist der Hitler-Stalin-Pakt in der staatlichen, kirchlichen, zivilgesellschaftlichen, familiären und individuellen Erinnerungskultur ein zentraler Orientierungspunkt, der Anfang vom Ende einer kurzen, da erst 1918 einsetzenden „goldenen Zeit“ nationaler Unabhängigkeit, politischer Selbstbestimmung und kultureller Entfaltung. Aus polnischer Perspektive etwa nehmen sich der deutsche Angriff vom 1. September und der sowjetische Einmarsch vom 17.September 1939 als zwei Seiten ein und derselben Medaille aus und stehen für den Beginn eines „doppelten“ fremden und grausamen Besatzungsregimes. Dass sich dieses im Verlaufe des Jahres 1941 von einem deutsch-sowjetischen in ein rein deutsches wandelte, fällt in dieser Perspektive wenig ins Gewicht, wie auch die militärische Wendung des Blattes von 1944, als die Rote Armee die Wehrmacht als Besatzer in Polen verdrängte, nur bedingt als Zäsur wahrgenommen wird. [...]

Fast noch negativer ist die Erinnerung an den 23. August 1939 in den drei baltischen Staaten, gilt doch hier dieses Datum als Auftakt nicht nur zur Zwangssowjetisierung, sondern zugleich zum Verlust der Eigenstaatlichkeit auf lange Jahrzehnte hinaus. Ein baltischer Erinnerungsort an sich ist bereits die Erinnerung an die noch zu Zeiten sowjetischer Repression erfolgten Proteste am jeweiligen Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes während der Perestrojka 1987 und 1988 sowie vor allem zum 50. Jahrestag 1989, als mehr als eine Million Esten, Letten und Litauer eine 600 Kilometer lange Menschenkette von Tallinn über Riga nach Vilnius bildeten.

Osteuropa steht für eine gezielte Verdrängung des sowjetisch-deutschen Teilungsbündnisses. In der Sowjetunion wurde die Existenz des Geheimen Zusatzprotokolls zum Nichtangriffspakt mit seiner „Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa“ bis zum August 1988 geleugnet, ehe der estnische Zeithistoriker Heino Arumäe den Protokolltext erstmals vollständig veröffentlichte. [...] Zwar führte die Öffnung der sowjetischen Archive unter Präsident Boris N. Jelzin zu einer selbstkritischeren Sicht auf das sowjetisch-deutsche Teilungsbündnis von 1939 bis 1941, gar zur Thematisierung sowjetischer Massenverbrechen wie jenem an gefangenen polnischen Offizieren von Katy? im Frühjahr 1940. Allerdings fand dies in der weiterhin staatlich dominierten Erinnerungskultur der neuen Russischen Föderation kaum Niederschlag.

Die Teilrehabilitierung der sowjetischen Vergangenheit im Allgemeinen und Stalins im Besonderen unter Jelzins Nachfolger Putin ist der Grund dafür, dass der Hitler-Stalin-Pakt – wie bereits vor 1989 – als bloßes taktisches Manöver sowjetischer Sicherheitspolitik und als ein Schritt gilt, der aufgrund der Appeasement-Politik der Westmächte im Herbst 1938 in München gleichsam alternativlos war. Der Moskauer Militärhistoriker Sergej Kovaljow ging unlängst sogar so weit zu behaupten, die „Eigensinnigkeit Polens“, genauer: die Weigerung Warschaus, einem „Anschluss“ Danzigs an das Dritte Reich zuzustimmen, habe den Angriff der Wehrmacht am 1. September gleichsam erzwungen.

In einem Halecki'schen Sinne „osteuropäisch“ ist auch die Verortung des 23. August 1939 in den offiziösen Erinnerungskulturen von Belarus, der Ukraine und Moldova, (autonomen) Sowjetrepubliken, die von der zwischen Berlin und Moskau seinerzeit vereinbarten und 1944 dann rekonstruierten Westerweiterung der UdSSR territorial erheblich profitierten. Selbst die zynische sowjetische Formel vom „Goldenen September“ – „golden“ eben aufgrund der am 17. September 1939 durch die Einverleibung der Osthälfte Polens erfolgten Gebietsexpansion – ist hier noch mitunter zu finden. Im ukrainischen Fall ist der Bezug auf den Hitler-Stalin-Pakt zugleich Teil der Debatte darüber, ob in Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft und Schulbüchern die postsowjetisch modifizierte Vorstellung eines von 1941 bis 1945 vor allem auf dem Gebiet der heutigen Ukraine stattfindenden „Großen Vaterländischen Kriegs“ – jetzt mit der Ukraine statt der UdSSR als Vaterland – proklamiert werden soll oder nicht eher diejenige eines 1939 beginnenden „Zweiten Weltkriegs“, gar die eines „Deutsch-sowjetischen Kriegs“ auf dem Territorium der Ukraine, aber ohne aktive ukrainische Beteiligung. Eine abschließende Antwort auf die Frage, ob die Eingliederung von Lemberg und Czernowitz in die Ukrainische SSR 1939 als verbrecherischer Akt Stalins oder nicht doch eher als das Ende polnischer und rumänischer Okkupation westukrainischer Gebiete zu werten sei, steht von Kiew noch aus.

Identität durch Konflikt. Gewicht und Inhalt des europäischen Erinnerungsortes Hitler-Stalin-Pakt werden also in den verschiedenen Teilen Europas ganz unterschiedlich bemessen und interpretiert. [...] Insofern also taugt dieses Datum sicher nicht als ein europäischer Erinnerungsort, der dazu beitragen könnte, die unterschiedlichen nationalen Sichtweisen auf die Geschichte zu harmonisieren oder gar eine europäische Identität zu fördern.

Dies ist nun aber mitnichten ungewöhnlich, werden doch auch Daten wie etwa der „8. Mai 1945“ von den Europäern hochgradig unterschiedlich, ja gegensätzlich erinnert. Sie geben gar Anlass zu Streit – und trotzdem kommt ihnen transnationale, identitätsstiftende Bedeutung für Teilräume Europas zu. [...] Konsensuale europäische Erinnerungsorte – dies belegt das Beispiel der 2000 in Stockholm gleichsam kodifizierten transatlantischen Holocaust-Kommemoration, aber auch dasjenige der gesamteuropäischen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg als katastrophisches Erleben sowie in Ansätzen auch die zentraleuropäische Vertreibungserinnerung – bilden sich aber gerade aus Verdrängung, Ignoranz und Streit heraus. Nur kann das lange dauern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2009)

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