"Und das Häuschen dort, wo Bolivar lebte? Enteignet es!"

Hugo Chavez
Hugo Chavez(c) EPA (Prensa Miraflores / HANDOUT)
  • Drucken

Je tiefer Venezuela in die Krise rutscht, desto mehr redet Präsident Hugo Chávez. Denn sein Charismawar es, das ihn immer wieder Wahlen gewinnen ließ. Herzstück der Propaganda ist die TV-Sendung "Aló Presidente"

Im elften Jahr nach seiner Wahl zum venezolanischen Präsidenten steckt Hugo Chávez in einer schweren Krise. Obwohl der Erdölreichtum Milliardenbeträge in die öffentlichen Kassen spült, ist die Armut nur unwesentlich gesunken und die Kriminalität stark gestiegen. Dass Chávez die medizinische Versorgung verbessert und dank kostenloser Schulen und Universitäten die Bildungschancen der Unterschicht erhöht hat, geben auch Oppositionelle zu. Alles in allem ist die Infrastruktur des Landes jedoch in einem erbärmlichen Zustand. Im vergangenen Jahr ist Venezuelas Wirtschaftsleistung um gut zwei Prozent geschrumpft, während die Inflation über 30Prozent betrug. Der Präsident hat ganze Industriezweige – etwa Elektrizität, Telekom, Stahl und Zement – verstaatlicht, was die ausländischen Investitionen abstürzen liess.

Was Chávez bisher stets gerettet hat, was ihn mehrere Abstimmungen sowie die Präsidentschaftswahlen 2006 gewinnen ließ, ist sein Charisma. Hugo Chávez ist ein begnadeter Rhetoriker und ein unermüdlicher Redner. Weil im September Parlamentswahlen stattfinden, redet er im Moment besonders viel. Das Herzstück seiner Propaganda ist die Radio- und Fernsehsendung „Aló Presidente“, die seit zehn Jahren jeweils am Sonntag ausgestrahlt wird. Sie findet stets an einem anderen Ort statt – im Präsidentenpalast, in einer Fabrik, auf einem Dorfplatz. Chávez erteilt Geschichtslektionen, erzählt Anekdoten aus seiner Kindheit, stimmt Volkslieder an und nimmt Anrufe entgegen. Vergangenen Sonntag sprach er auf der Plaza Bolívar in Caracas, wie immer begleitet von Anhängern, Funktionären und geladenen Gästen. Das folgende Protokoll gibt die Höhepunkte der Sendung unverändert wieder.

Chávez: Die Plaza Boliiiivar. Simón Bolívar, der Befreier Venezuelas. Dort steht das Bürgermeisteramt und die wenigen kolonialen Gebäude, die überlebt haben. Die der gefräßige Kapitalismus nicht verschlang, wie er es mit dem übrigen kolonialen Caracas getan hat. Mir gefiel es schon als Kind, hierherzukommen... ein bisschen spazieren, das Geburtshaus Bolívars besuchen. Ich bin zwar nicht aus Caracas, das wisst ihr ja, ich komme aus dem Süden. Als ich als kleiner Junge hierher kam, machte mir die Stadt Angst, aber jetzt liebe ich sie. Bolivar ... wie geht doch gleich jenes Lied? (singt): Simón Bolívar, Simoooon. Dank dir ist Venezuela geboren, und wie ein Licht durchfliegt deine Stimme die Zeiten. Hier sind wir, und er führt uns noch immer in die Schlacht. Bolívar ist auferstanden und geht im Volk umher, genau wie Jesus Christus. Was ist das für ein Gebäude? Ein ehemaliges Theater, oder nicht? Das gehört der Regierung. Und dieses historische Gebäude?

Jorge Rodríguez, der Bürgermeister: Da ist ein privates Juweliergeschäft drin.

Chávez: Enteignet das ganze Gebäude! Enteignet es sofort!

Jorge Rodríguez: Einverstanden.

Chávez: Und jenes Häuschen dort, wo Bolívar nach seiner Hochzeit eine Zeit lang gelebt hat? Da sind auch private Geschäfte drin? Enteignet es! (Die Menge applaudiert.) Herr Bürgermeister, wir müssen das hier in ein großes historisches Zentrum verwandeln. Hier soll ein architektonisches Projekt umgesetzt werden! Wir sind schließlich in Caracas, im rebellischen Caracas. Es geht darum, die materielle Basis des Sozialismus zu schaffen. Der Sozialismus muss Fleisch, Knochen, Territorium, staatliches Produktionsmittel werden, eine neue Art des Kommerzes, ein sozialistischer Kommerz. Wir müssen den Teufel des Kapitalismus vertreiben. Das kapitalistische Modell ist wie Gift. Wie wenn jemand in einem Wald Gift verschüttet, und das schädigt dann die Pflanzen, dringt in den Boden ein, ins Grundwasser, vergiftet alles, die Tiere, die Menschen. Aber das Schlimmste am Kapitalismus ist, dass er die Seele vergiftet.

Eine Begleiterin: Und die Herzen.

Chávez: Die Seele, die Herzen, er zerstört die Gesellschaft, die menschlichen Werte, und er verwandelt den Menschen in ein ...

Die Begleiterin: ... in ein Tier.

Chávez: In ein Instrument, eine Ware. Er verurteilt uns zu einem unmenschlichen Leben, wie Karl Marx sagte. Christus spricht vom menschlichen Leben, und was er vorschlägt, ist im Kapitalismus unmöglich, das geht nur im Sozialismus. Und was Bolívar vorschlägt, und ... hm ...Fidel, Che Guevara, Sucre. All diese Leute.

Die Begleiterin: Im Sozialismus ist alles möglich. Ich habe dank der neu gegründeten Schulen und Universitäten soeben mein Studium beendet. Und dies als Kolumbianerin. Ich bin wirklich dankbar.

Chávez: Venezolanerin, Kolumbianerin, das spielt keine Rolle. Ein Applaus für unsere kolumbianische Freundin! (Die Menge applaudiert). Und ihr da, entschuldigt, dass ich euch noch nicht begrüßt habe. Wie geht es euch?

Mehrere Stimmen: Guuuut.

Chávez: Singt ihr auch? (singt) Isidoooro, wenn du nach Caracas kommst. Ich singe schlecht, aber ich singe. Wir haben hier übrigens ein paar Spezialgäste. Erika und ihre Vizeministerinnen. Die Staatsanwältin Gladys ist auch hier. Und Antonio aus Brasilien, Laura aus Ecuador, Hugo aus Salvador, Julio aus Honduras. (Menge applaudiert) Ihr seht, Venezuela hat Freunde auf der ganzen Welt. Gleichzeitig formiert sich die Rechte auf dem ganzen südamerikanischen Kontinent, um die progressiven Regierungen zu destabilisieren. Die sieben neuen amerikanischen Militärbasen in Kolumbien sind sieben Dolchstöße in das Herz Südamerikas. Wir müssen das Yankee-Imperium besiegen, oder unser Traum scheitert. Uns haben sie mit der kapitalistischen, individualistischen Gringo-Kultur vergiftet, mit ihrer Miami-Kultur. Die treibt diese gewalttätigen, faschistischen Gruppen des Bürgertums in Miami an. Vor Kurzem war ich zu Besuch bei Fidel. Die Liebe, die mir das kubanische Volk entgegenbringt, ist überwältigend – an jeder Ecke Havannas, in jedem kubanischen Dorf, in jeder Stadt. In Santa Clara, in Cienfuegos, in Santiago. Einmal war ich mit meiner Tochter unterwegs, und wir hielten nachts irgendwo an, weil wir eine Toilette suchten. Der ganze Ort ist zusammengeströmt ... eine unendliche Liebe. Am folgenden Tag sagte ich zu Fidel: „In Venezuela gibt es Dörfer, wenn ich da aussteige, dann reißen mich die Leute vor Wut in Stücke.“ Darauf antwortete Fidel: „Ja, was glaubst du denn, Chávez? Das ist dasselbe, wie wenn ich irgendwo in Miami aussteigen würde. Du hast Miami in deinem eigenen Land.“ Damit hatte er vollkommen Recht. Mein Gott, ist es schwierig, unter solchen Umständen eine Revolution durchzuführen! Aber ihr könnt sicher sein, wir gewinnen trotzdem. (Menge applaudiert) Mit dieser vaterlandslosen Bourgeoisie, diesen Faschisten, gibt es keine Kompromisse. (...)

Chávez: Was haben wir hier? Die englische Ausgabe der Zeitung „El Correo del Orinoco“. Ich weiß nicht, was das heißt, aber zeigt mal: For now, for ever. The day Hugo Chávez...“ Undsoweiter. Was heißt das?

Ein Begleiter: Der Tag, an dem Hugo Chávez die Zukunft des Schulsystems veränderte.

Chávez: Das war nicht ich, das war das Volk, das mich gewählt hat. Ich bin ja nur ein Strohhalm, der vom revolutionären Wirbelsturm mitgerissen wird. Wie schon Bolívar sagte. Und hier: The artillery of the ideas. Das ist sehr wichtig, das muss bis in die USA gelangen, und in die englischsprachigen Länder der Karibik. Und auf Portugiesisch und Französisch muss es auch erscheinen. Aber um nochmals auf die Gebäude hier zu kommen. Wie steht es damit, Bürgermeister? Entschuldigung, Herr Bürgermeister. Wann sind sie enteignet?

Jorge Rodríguez: Herr Präsident, ich habe bereits die notwendige Anordnung unterschrieben und mit der Gemeinderatspräsidentin gesprochen. Übermorgen sollten die Gebäude enteignet sein.

Chávez: Sehr gut. Wir müssen dann die Besitzer noch anrufen, um sie über den Entscheid des Bürgermeisters zu informieren. (Die Menge applaudiert.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.