Toleranz: Nicht schuld am Multikulti-Fiasko

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David Cameron hat recht, wenn er den Multikulturalismus geißelt. Aber er sollte nicht das Konzept der Toleranz für die hasenfüßige moderne Abneigung, Urteile zu fällen, verantwortlich machen.

Dass der britische Premier David Cameron dem staatlich unterstützten Multikulturalismus in seiner Rede in München eine Absage erteilt hat, war überfällig. Aber er sollte die Probleme des Multikulturalismus nicht der Toleranz anlasten. Im Lauf seiner Rede hat er die Toleranz fälschlich für das Versagen des Multikulturalismus wie für das Wachsen des islamischen Terrors verantwortlich gemacht. Er sagte: „Wir brauchen ein gutes Stück weniger passive Toleranz und mehr aktiven, kraftvollen Liberalismus.“

Aber was ist „passive Toleranz“? Toleranz ist alles andere als passiv. Toleranz braucht Mut, Überzeugung und ein Bekenntnis zur Freiheit – Schlüssel-Charakteristika eines zuversichtlichen und aktiven öffentlichen Ethos. Toleranz bekräftigt das Prinzip der Nichteinmischung in das innere Leben der Menschen, in ihr Festhalten an gewissen Überzeugungen und Meinungen, solange eine Handlung nicht anderen Schaden zufügt oder deren moralische Autonomie verletzt.

Ein starker Grund, warum wahrhaft offene Gesellschaften Toleranz unterstützen sollten, liegt in der Wahrnehmung, dass die Wahrheit im Zusammenprall von widerstreitenden Meinungen und Ansichten ermittelt wird. Sogar irrige Ansichten können – durch den erhobenen Widerspruch – zur allgemeinen Klarheit im öffentlichen Leben beitragen. Es ist nicht leicht, tolerant zu sein. Es setzt die Bereitschaft voraus, Ansichten zu tolerieren, die man anstößig findet, und anzuerkennen, dass keine Idee außer Frage stehen sollte. Deswegen sollte man Toleranz nicht nur als intellektuelles Streben betrachten – sie benötigt darüber hinaus kulturelle, gesellschaftliche Unterstützung. Denn die Fähigkeit des Tolerierens hängt davon ab, dass die Gesellschaft Freiheit ernst nimmt. Überzeugungen zu tolerieren, die unseren eigenen feindlich gegenüberstehen, verlangt ein gewisses Ausmaß an Vertrauen in die eigenen Werte – und die Neigung, Risken einzugehen.

Wenn Cameron beklagt, dass die britische Gesellschaft als Resultat multikultureller Politik aufgehört hat, die rückschrittlichen Sichtweisen und Praktiken von Minderheiten zu kritisieren und zu verurteilen, dann sollte er nicht mit dem Finger auf die Toleranz zeigen– ob passiv oder sonst wie.

Multikulturalismus hat mit Toleranz nichts zu tun. Multikulturalismus verlangt nicht Toleranz, sondern nachsichtige Indifferenz. Er propagiert unerbittlich die Idee der „Akzeptanz“ und entmutigt das Hinterfragen der Überzeugungen und Lebensstile anderer Menschen. Sein dominierender Wert ist „Non-judgementalism“, das Sich-Versagen eines Urteils. Doch Urteilen, Kritisieren und Bewerten sind Schlüsselattribute einer geistig offenen, demokratischen Gesellschaft, die ihren Namen verdient. Es ist von entscheidender Wichtigkeit, das Konzept der Toleranz vor seiner konfusen Verbindung mit dem Multikulturalismus zu retten.


Toleranz ist nicht Akzeptanz. In der aktuellen öffentlichen Debatte droht die wichtige Verknüpfung von Toleranz und Urteil verloren zu gehen. Das Wort „tolerant“ wird nun gleichbedeutend mit „urteilslos“ verwendet. Obwohl die Scheu, das Verhalten anderer zu beurteilen, auch seine attraktiven Seiten hat, ist sie nicht notwendigerweise eine Manifestation gesellschaftlicher Toleranz. Die Vorbedingung einer funktionierenden demokratischen öffentlichen Sphäre ist die Offenheit gegenüber dem Gespräch und der Debatte. Über die Unterschiede in den Auffassungen nachzudenken, die anderen wissen zu lassen, wo man steht und was wir an ihren Ansichten als abzulehnen erachten – genau das ist die Grundlage einer lebendigen Demokratie. Ohne sie wird Toleranz zu schaler Indifferenz, eine Entschuldigung abzuschalten, wenn andere reden.

Besonders deutlich wird die Konfusion des Konzepts von Toleranz mit der Idee der Akzeptanz aller Lebensstile in der „Erklärung von Prinzipien der Toleranz“ der Unesco. Dort heißt es: „Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt.“ Die Unesco behauptet zudem, Toleranz sei „Harmonie über Unterschiede hinweg“. Für die Unesco wird Tolerieren eine expansive, diffuse Sensibilität, die automatisch bedingungslosen Respekt für andere Ansichten und Kulturen offeriert.

Die Neuinterpretation von Toleranz als Urteilslosigkeit oder Indifferenz wird oft als etwas Positives gesehen: Ganz offensichtlich gestatten sich Menschen mit offenem Geist kein Urteil. In Wirklichkeit kann man den Gestus der Affirmation und Akzeptanz als einen Weg sehen, der es vermeiden hilft, eine schwierige moralische Wahl zu treffen. Und als einen Weg, sich vor der Herausforderung zu drücken, zu erklären, welche Werte es wert sind, hochgehalten zu werden. Es ist viel einfacher, sich gleich des gesamten moralischen Urteilens zu enthalten, als zu erklären, warum eine bestimmte Lebensart einer anderen vorzuziehen sei, die, jawohl, toleriert, aber nicht begrüßt werden müsse.


»British Day« abgesagt. Dankenswerterweise hat Cameron nach der Bemerkung, das der Multikulturalismus zu einer Trennung der verschiedenen Kulturen ermuntert hat, eine weitere unbequeme Wahrheit angesprochen: dass es „uns nicht gelungen ist, eine Vision der Gesellschaft zu erstellen, von der sie fühlen, dass sie dazugehören möchten.“ Die Abwesenheit einer solchen Vision ist nicht zufällig – weil der Multikulturalismus verlangt, dass kein Wertesystem als einem anderen überlegen gesehen oder als anzustrebende Norm gedacht wird. In der multikulturellen Sicht ist das Fehlen einer gesellschaftlichen Vision kein Manko, sondern ein Erfolg.

Seit einiger Zeit schon finden es viele europäische Gesellschaften schwer, einen Konsens zu bilden, mittels dessen sie Errungenschaften aus der Vergangenheit und hochgehaltene Grundwerte bekräftigen könnten. Hergebrachte Symbole und Konventionen haben viel von ihrer Macht zu begeistern und zu inspirieren verloren, in manchen Fällen sind sie unwiderruflich beschädigt. Das wird deutlich in der ständigen Kontroverse rund um den Geschichtsunterricht. Wenn die führende Generation spürt, dass die Geschichten und Ideale, mit denen sie aufgewachsen ist, in unserer veränderten Welt „ihre Relevanz verloren haben“, fällt es ihr schwer, diese Geschichten und Ideale mit Überzeugung ihren Kindern weiterzugeben. Erregte Debatten über Gute und Böse in der Vergangenheit spiegeln wettstreitende Ansprüche auf Interessen und Identitäten wider.

So hat im Jahr 2006 der damalige Finanzminister Gordon Brown den Plan verkündet, einen „British Day“ abzuhalten, um „Dinge in den Fokus zu nehmen, die uns zu einer Gemeinschaft machen“. Aber auszusprechen, was eine Gesellschaft zusammenhält, hat sich als viel zu schwierige Aufgabe herausgestellt, sodass die Idee eines „British Day“ im Jahr 2008 wieder fallen gelassen wurde. Der klammheimliche Rückzug der Regierung war ein Eingeständnis, dass nationale Traditionen, die die Öffentlichkeit zu begeistern vermögen, nicht in Komitee-Sitzungen und der Konsultation von „Stakeholdern“ erfunden werden können.


Patriotismus als Zumutung. In einem neuen Lehrplan für 11- bis 14-Jährige vom Juni 2007 hieß es, dass „die Schüler gemeinsame Werte lernen und die nationale Identität im Vereinten Königreich studieren“ würden. Aber in Abwesenheit einer klaren Vorstellung, was denn die gemeinsamen Werte heute seien, waren die Lehrer besorgt darüber, ob sie mit einem von ihnen als kontrovers wahrgenommenen Gegenstand auch umgehen können würden. Eine Umfrage unter Lehrern zum Thema „Patriotismus als Lehrinhalt“ zeigte als einen Grund für das Unbehagen „Unsicherheit darüber, wie angemessen es sei, patriotische Anhänglichkeit an Großbritannien bei Schülern aus Einwandererfamilien zu propagieren, die bestehende Anhänglichkeiten an ihre Herkunftsländer haben“. Die Studie zeigte, dass nur 13 Prozent der befragten Lehrer glaubten, dass Schulen „aktiv Patriotismus bewerben“ sollten.

Die Verwirrung darüber, was eine Gesellschaft zusammenhält, wurde richtiggehend zur Karikatur, als die New-Labour-Regierung im Jahr 2008 in aller Stille den Plan eines nationalen Liederbuches auf die lange Bank schob. Die Regierung wollte ursprünglich eine Sammlung von 30 Liedern veröffentlichen, die jeder 11-Jährige können sollte. Aber die Idee wurde als „zu spaltend“ („too divisive“) zurückgewiesen. Schlussendlich haben sich die Funktionäre entschlossen, die Kontroverse zu vermeiden, die eine Veröffentlichung eines gemeinsamen Liederbuches provoziert hätte, und sich stattdessen für eine „Lieder-Datenbank“ von 600 Liedern entschieden.

Wenn eine Gesellschaft zu peinlich berührt ist, um eine nationale Lieder-Liste zu erstellen, wie kann sie erwarten, dass verschiedene Gemeinschaften vom selben Blatt singen? Es hat wenig Sinn, darin fortzufahren, den Multikulturalismus für die tiefen Probleme verantwortlich zu machen, denen wir heute gegenüberstehen. Wir sollten trotzdem unbedingt dem staatlich geförderten Multikulturalismus ein Ende setzen, denn das würde uns zumindest befähigen, das darunter liegende Problem anzugehen: die Krise der Werte und des Begriffs der Gesellschaft. Aber bleiben wir vor allem unserer Verpflichtung zur Toleranz treu. Toleranz bleibt eine wichtige Tugend, weil sie den Menschen sehr ernst nimmt. Indem sie die Menschen dazu ermutigt, ihre Überzeugungen auszusprechen, hilft sie mit, jene Art von Dialog zu schaffen, die Voraussetzung für gemeinsame Erfahrungen und gemeinsame Begriffe ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2011)

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