Renaissance des Abendlandes

Renaissance Abendlandes
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Unsere Auseinandersetzung mit dem Islam: Wird unsere Tradition aus dem historischen Bewusstsein gedrängt, ist allgemeine Verunsicherung die Folge – die schlechteste Position in jedem Dialog.

Ein Schweizer glaubt, dass sich seine muslimischen Schüler beleidigt fühlen, wenn die Schweizer Schüler auf ihrem T-Shirt ein Kreuz tragen: das Schweizer Kreuz. Eine englische Fluggesellschaft verbietet ihren Angestellten, im Dienst Halskettchen mit einem kreuzförmigen Anhänger zu tragen, um muslimische Fluggäste nicht zu irritieren, dafür dürfen indische Bedienstete ihren Turban weiter tragen. Die größte islamische Organisation Schwedens verlangt die Einführung eigener staatlicher Gesetze für Muslime. In Belgien werden im Gegensatz zu Nichtmuslimen die Anhänger des Islam bereits nach drei Jahren eingebürgert.

Das sind einige wenige, doch durchaus für die europäische Unterwerfungsmentalität charakteristische Beispiele. Alle diese und viele andere Beispiele entsprechen unserer Gesinnung aus einer Welt ohne Selbstrespekt und Selbstachtung. Die Antworten auf die Bedrohung durch einen immer radikaleren Islamismus münden entweder in der Aufgabe der eigenen Kultur des Abendlandes oder in rassistischen Hassausbrüchen über den Umweg eines „Kampfes des Kulturen“.

Da diese beiden Extremvarianten falsch und nutzlos sind, fällt unseren geistlichen und weltlichen Repräsentanten nichts anderes ein als der Vorschlag zum „Dialog“. Sie vergessen dabei darauf, dass nur gleichberechtigte und gleichwertige Partner einen zielgerichteten Dialog führen können. „Dialoge“ sind Gespräche, die zwischen zwei Gruppierungen geführt werden, um die eigenen und die gegenseitigen Standpunkte kennenzulernen. Unser Standpunkt sollte die abendländische Tradition und Gegenwart widerspiegeln.

Der geopolitische Begriff „Abendland“ beschränkte sich ursprünglich nur auf Europa, das im Westen, in Richtung untergehender Sonne liegt. Um jedweden Eurozentrismus zu vermeiden, gilt der „Westen“ als Okzident, als Abendland, im Gegensatz zum Morgenland, zum Orient. Nach dem deutschen Ex-Bundespräsidenten Theodor Heuss ruht das Abendland auf drei Hügeln: Akropolis, Kapitol und Golgota. Nach moderner Auffassung kommen noch dazu der Berg Zion und die Leichenberge der Französischen Revolution. Somit ergänzen Judentum und Aufklärung die anderen Quellen des Abendlandes.

Auch das Abendland ist nichts Monolithisches; es speist sich wie alle Kulturen der Welt aus zahlreichen Quellen, wie beispielsweise die mesopotamischen und die ägyptischen Hochkulturen. Hier zeigt sich der erste wesentliche Unterschied zum islamischen Orient, der sämtliche asiatischen Kulturen wie Buddhismus, Hinduismus, außer Acht ließ; deshalb auch die scharfe Abgrenzung des Islams zu allen „ungläubigen“ Kulturen.

Die erste große Gestalt des vereinten Abendlandes war Kaiser Karl der Große, der sich im Jahre 800 zum „römischen“ und nicht mehr nur zum fränkischen Kaiser krönte. Das zweite große Symbol des Abendlandes ist ohne Zweifel das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (1474–1806). Dieses erste große multiethnische Reich war genau genommen weder „römisch“, noch „heilig“ und keineswegs „deutsch“. Diese lebendige und erfolgreiche Verkörperung unserer Tradition war ein eher seltsames Gebilde; es hatte keine Hauptstadt, sein Oberhaupt wurde von sieben Kurfürsten gewählt und vom Reichstag in Regensburg bestätigt. Zwar versank das Reich unter Napoleons aufklärerischem Imperialismus, doch blieb der Gedanke des europäischen Abendlandes weiterhin ungebrochen bestehen.

Im Gegensatz zur bürgerlichen Bewegung der Aufklärung, welche die Entstehung der Nationalstaaten und der Diktaturen begünstigte, bevorzugte die abendländische Tradition die judeo-christliche Reichsidee einer Überstaatlichkeit, die wir heute als Europäische Union mehr erleben als feiern. Dass die liberal-laizistischen Politiker unserer Zeit „Gott“ und „Religion“ – geschweige denn das „Christentum“ – in der EU-Verfassung nicht sehen wollen, ist ein dummer, dumpfer und ungerechter Bruch mit unserer Tradition. Daher stehen wir wie Kinder, die ihre Eltern verleugnen, in Folge dieser inneren Aushöhlung unserer Tradition dem Islam gegenüber mit leeren Händen da.
Emanzipation gegen Tradition. Im Schatten des immer wieder aufflammenden „Krieges der Kulturen“ entdecken wir die entscheidende Formel des Unterschiedes zwischen Orient und Okzident: Während unser Okzident die Emanzipation ohne Tradition pflegt, frönt der Orient einer Tradition ohne Emanzipation. Auch die Kehrseite beider Eigenschaften ist bedrohlich: Das Wissen ohne Glauben im Okzident ist töricht und der Glaube ohne Wissen im Orient ist gefährlich.

Jetzt haben wir Adam und Eva gerächt: Gott hat die beiden Apfelesser aus dem Paradies gejagt, wir vertreiben Gott aus unserer armseligen Welt und erklären die Europäische Union abendland- und religionsfrei. Das Rezept gegen diese seelische Leere heißt die Wiederentdeckung der abendländischen Tradition. Bekannt sind die fünf Quellen des Abendlandes: die griechische Philosophie, die römische Politik, die jüdische Religion, die christliche Religionsverbreitung und schließlich die Aufklärung:Die griechische Philosophie schuf unter anderem die Idee des Dualismus (Sokrates, Platon, Aristoteles und Plotin) und die des Absoluten (Platons Archetyp), die Öffnung zum Humanismus des Protagoras („Der Mensch ist das Maß aller Dinge“) und die Lehre des Aristoteles (Vernunft als Tugend) schufen die Grundsteine unserer Kultur.

Ohne Roms Politik zwischen dem 6.Jahrhundert vor und dem 6.Jahrhundert nach Christi könnten wir kaum vom Abendland sprechen. Und wenn, dann eher von einem Schließ-, als von einem Wachdienst der westlichen Kultur. Das römische Jahrtausend kann mit der Kurzformel „Gewalt und Politik“ am besten charakterisiert werden. Rom schuf nicht nur das erste europäische Reich, sondern auch die Basis für Kunst und Wirtschaft.

Die jüdische Religion, diese Instrumentalisierung des ägyptischen Eingottglaubens Echnatons, vereint drei Begriffe in sich: Gott, Glaube und Geschichte. Über alle drei stülpt sich das Gesetz des Moses, des Jesus und des Paulus. Erst in der jüdischen Diaspora – und davor im babylonischen Exil – wurde die Religion zum Bindeglied dieses Volkes. Auch das, was heute in unserem westlichen Leben selbstverständlich und für die gesamte Entwicklung unverzichtbar ist – Wissen, Forschung und Publikation –, ist jüdischen Ursprungs. Das Wissen erwuchs aus dem verpflichtenden Studium der Thora, die Forschung aus den Kommentaren im Talmud und die Publikation aus dem Niederschreiben dieser Kommentare.

Warum nur die christliche „Religionsverbreitung“? Weil das Christentum keine originelle abendländische Religion ist, sondern die Fortsetzung, die universelle Öffnung der jüdischen Religion ist. Der wirkliche Begründer des Christentums war nicht der jüdische Rabbiner Jeschua, sondern der römisch assimilierte Jude Saulus von Tarsus, der sich ab nun Paulus nannte und als „Völkerapostel“ und grandioser Umetikettierer die Lehre Jesu in die Welt brachte. Ohne das paulinische Christentum könnten wir heute von keinem Abendland sprechen.

Die Zivilisation der Aufklärung, dieses Kind des evangelischen Ungehorsams gegen Papst und Klerus, diese niedliche Tochter der humanistischen Emanzipation, hatte einen wirklichen Vater: Immanuel Kant, an dessen Händen, im Gegensatz zu den französischen Revolutionären, höchstens Nasenblut klebte, der die Marschroute für die aufklärerische Epoche des Abendlandes ausgegeben hatte. Der Mensch solle „seinen eigenen Verstand bedienen“ und sich von „seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ befreien. Während sich in Frankreich die Henker anschickten, Überstunden zu verrechnen, mussten Fixangestellte auch in deutschen Landen Mehrarbeit leisten; allerdings waren es nicht die Henker, sondern die Schreiber und Drucker von Büchern und Zeitschriften.

Diese Kindeskinder des Martin Luther setzten die jüdische Tradition fort: Sie dachten frei, ohne kirchlichen Zwang nach, kommentierten Gott und die Welt und bereiteten unsere heutige Demokratie samt Säkularismus und Wohlstand vor. Auf den Schultern der französischen „Leidtragenden“ und der deutschen „Leittragenden“ erblühte die große Zivilisation der Aufklärung.


»Lernen Sie... Sicherheit!» Die mittlerweile klassisch gewordene Mahnung Bruno Kreiskys („Herr Redakteur, lernen Sie Geschichte!“) ist heute aktueller denn je. Wenn wir einerseits den Dialog mit dem Islam auf Augenhöhe führen und andererseits die Integration („Einbindung in ein Ganzes“) mit den muslimischen Migranten vorantreiben wollen, ist es notwendig, die eigene kulturelle Position zu kennen, die Wurzeln, die Sicherheit vermitteln.

An die Kreisky'sche Mahnung erinnerte mich eine Frage – „Wie sollen wir eure Religion, eure Kultur ernst nehmen, wenn ihr sie überhaupt nicht mehr kennt?“ – meines muslimischen Freundes. Und recht hat er. Wie sollen wir von den Migranten dieses Glaubens eine äußere Anpassung, eine gewisse Annahme unserer abendländischen Kultur erwarten, wenn wir unsere Kultur selbst nicht kennen? „Schau“, so mein muslimischer Freund und Gesprächspartner, „wir bemühen uns, die Gesetze des Korans zu befolgen. Das solltet ihr akzeptieren und nicht kopfschüttelnd missdeuten. Wir verlangen von euch Respekt. Doch ,Respekt‘ ist keine Einbahnstraße; auch wir wollen eure Kultur respektieren, doch wir sehen sie nicht, sie scheint nicht mehr vorhanden zu sein – und eure soziale und sexuelle Freiheit, sicherlich auch Folgen der Aufklärung, sind für uns zu wenig.“

Alle Menschen dieser Welt haben Sehnsucht nicht nur nach Freiheit, sondern auch nach Ordnung, Halt und Tradition. Auch der Satz Wittgensteins („Alles, was passiert, ist die Wiederholung von etwas zuvor Geschehenem“) bezieht sich auf das Kennen des bereits Geschehenen, das wir erlernen müssen, um in unserer Zeit besser dastehen zu können.

Unser gängiger Fehler, die „Aufklärung“ zur alleinigen Quelle unserer Tradition zu erheben, störte bereits die Lehre Freuds: „Die Psychoanalyse warnt uns vor dem Autonomieideal der Aufklärung, die zu einer psychologischen ,Kultur des Narzissmus‘ degeneriert.“ (Eli Zaretsky in „Freuds Jahrhundert“). Der notwendige Dialog zwischen Orient und Okzident bedingt nicht nur die jeweilige Stärke (aus der Tradition) der Gesprächspartner, sondern auch das Kennen des anderen. So auch in unserem konkreten Fall. Im Gegensatz zur jüdischen Traditionsliebe, zum katholischen Universalismus und zur protestantischen Weltlichkeit ist die islamische Tradition kontroversiell.

Da Mohammed das Gotteswort nicht auf alle Lebensbereiche ausdehnte, verlief die Sunna (Tradition) mehrschichtig. Auch damit muss man im Dialog rechnen. Gleichzeitig sollten wir nicht vergessen, dass Tradition unser aller Leben beeinflusst. Wird sie entleert oder gar aus dem historischen Bewusstsein gedrängt, so muss man mit einer allgemeinen Verunsicherung rechnen, und Verunsicherung ist die denkbar schlechteste Position in jedem Dialog.

Wir werden nur dann mit den Problemen der Gegenwart fertig, wenn sich das Abendland auf seine Geschichte besinnt. Heute ist die politische Weltsituation zwischen Orient und Okzident noch anders: Menschen (des Abendlandes) ohne Geschichte verstehen die Gegenwart nicht und haben keine Zukunft; Menschen (des Morgenlandes) ohne Zukunft verharren in der Geschichte und halten diese für die Gegenwart.

Peter Stiegnitz
in Ungarn geborener und aufgewachsener österreichischer Autor und Ministerialrat im Ruhestand (Bundespressedienst), Gastprofessor an der Universität Budapest. Zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem zur Migrationssoziologie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2011)

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