Lebensmittelspekulation: Warum Krugman irrt

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Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman bestreitet einen Zusammenhang zwischen Lebensmittelspekulation und hohen Lebensmittelpreisen. Doch den gibt es sehr wohl.

In den letzten drei Monaten starben in Somalia 29.000 Kinder unter fünf Jahren an Hunger, 600.000 weitere sind gefährdet. Ein aktueller Bericht der Weltbank macht die hohen Lebensmittelpreise verantwortlich. Nicht allein Globalisierungskritiker – auch konservative Politiker wie Nikolas Sarkozy – sehen Lebensmittelspekulation als Hauptursache der Preishausse.  Ganz anders der Wirtschaftsnobelpreisträger und „New York Times“-Kolumnist Paul Krugman. Der Ökonom bestreitet einen Zusammenhang und hat damit viele seiner Leser vor den Kopf gestoßen. Interessierte fragen sich: Wie lauten Krugmans Argumente und wie stichhaltig sind sie?
Zuerst gilt es, den Begriff der Spekulation mit Waren zu klären: In der Zeit von Adam Smith handelte es sich dabei ganz einfach um das Horten eines knappen Gutes zum Zwecke seiner Teuerung. Heute – im Zeitalter der Finanzmärkte – ist der Sachverhalt komplizierter: moderne Güterspekulanten, das sind hauptsächlich Investmentbanken, erwerben in großem Stil sogenannte Future-Kontrakte. Das bedeutet: Sie kaufen heute Waren, die erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft geliefert werden müssen und hoffen, diese Waren dann teurer losschlagen zu können.
Durch dieses Verfahren erhalten Nahrungsmittel, Rohöl und Rohstoffe zusätzlich zu ihrem aktuellen Marktpreis (spot-price) einen sogenannten Zukunftspreis (future-price). Sobald dieser Zukunftspreis etwa von Weizen den aktuellen Marktpreis übersteigt, gibt es einen Anreiz für Bauern und Agrarkonzerne, Weizen zu horten und in Form eines Future-Kontraktes zu verkaufen. Die Preise steigen.
Auch wenn der Zusammenhang heute komplizierter ist als anno 1800, ist der Kern so einfach wie eh und je. Ohne Horten, ohne künstliche Verknappung des Angebots, führt auch die wüsteste Spekulation mit Future-Kontrakten nicht zu einer Steigerung des aktuellen Marktpreises.

Krugmans Argument.
Genau hier setzt der Ökonom Paul Krugman in seiner Argumentation an. Er behauptet, dass im letzten Jahr während der großen Steigerung der Nahrungsmittelpreise die Lagerhaltung nicht stieg, sondern sank. Die Spekulation könne folglich nicht für die Entwicklung verantwortlich gemacht werden. Er schrieb in seinem Blog am 7. Februar 2011: „If high futures prices induce increased storage, this reduces the quantity available to consumers, and it can raise the price. And you can, in fact, argue that something like this has been happening for cotton and copper, where there are apparently large and growing inventories. But for food, it's just not happening: stocks are low and falling.“
Krugman macht in seinem Blog vom 29. Feburar 2011 vor allem das schlechte Wetter für Ernteausfälle und damit für die Preissteigerung verantwortlich.

Homo oeconomicus. Zunächst ist es bemerkenswert, dass Krugmans These einer Grundannahme der Volkswirtschaftslehre entgegenläuft, der Annahme nutzenmaximierender Wirtschaftsakteure. Es ist nämlich eine anerkannte Tatsache der Finanzwissenschaft, dass ein Anreiz zum Aufschub des Warenverkaufs entsteht, sobald der Future-Preis den Spot-Preis übersteigt. Dieses bei Warentermingeschäften übliche Phänomen nennt sich Contango. Stimmt Krugmans Interpretation, würde sich der Homo oeconomicus auf dem Gebiet der Lebensmittelindustrie plötzlich in einen sehr unökonomischer Zeitgenossen, um nicht zu sagen in einen ausgemachten ökonomischen Dummkopf, verwandeln.
Nun zum Kern der Auseinandersetzung, zur Frage der Lager: Ihrer Funktion nach können Lager in zwei Gruppen eingeteilt werden: In solche mit Ausgleichsfunktion und in solche mit Spekulationsfunktion. Die beiden Typen haben einen unterschiedlichen Einfluss auf den Rohstoffmarkt.
Verarbeitende Betriebe, aber auch Farmer, bilden zunächst Lager mit einer Ausgleichsfunktion. Der Zweck dieser Lager besteht darin, Schwankungen in der Produktion, beim Einkauf, aber auch beim Verkauf auszugleichen und damit den Materialfluss konstant zu halten. Dem Farmer geht es dabei auch darum, seine Zahlungsfähigkeit gegenüber den Kreditgebern aufrechtzuerhalten. In diese Kategorie von Lagern fallen auch staatliche Lager. Wenn es auf dem Rohstoffmarkt zu Engpässen kommt, gilt: Je höher die Lagerbestände mit Ausgleichsfunktion sind, desto höher das volkswirtschaftliche Angebot an Rohstoffen, desto besser werden die Engpässe durch die Lager ausgeglichen.

Künstliche Knappheit.
Das gerade Gegenteil ist der Fall bei Lager mit Spekulationsfunktion. Sie werden mit dem Ziel gebildet, von Engpässen am Rohstoffmarkt zu profitieren. Sie schränken auch im Falle von Engpässen das volkswirtschaftliche Angebot ein, wenn weitere Preissteigerungen zu erwarten sind. Wenn Monopolisten Lager mit Spekulationsfunktion bilden, können sie damit sogar Knappheit künstlich erzeugen, um Preissteigerungen zu generieren. Lager mit Spekulationsfunktion haben keine ausgleichende, sondern eine Engpässe verstärkende Wirkung.
Hinter einem Sinken der gesamten Lagerhaltung kann sich folglich ein differenzierter Prozess verbergen. Es ist möglich, dass sich die Lagerbestände mit Ausgleichsfunktion verringern und damit die Engpässe am Markt entspannen helfen. Werden aber gleichzeitig neue Lager mit Spekulationsfunktion gebildet, kommt es unter Umständen trotzdem zu einem Druck auf die Preise. Genau dieses Szenario ist nicht unwahrscheinlich. Es entspricht dem zu erwartenden Verhalten der jeweiligen Lagertypen auf eine angespannte Marktsituation.
Krugmans Behauptung, dass es nur bei steigenden Lagern zu einem Effekt der Spekulation auf die Preise kommen kann, greift demnach zu kurz.

Lagerhaltung und Statistik.
Werfen wir einen Blick auf konkrete Zahlen: Das US Department of Agriculture (USDA) veröffentlicht jedes Monat einen Bericht mit den Endlagerbeständen, den sogenannten WASDE (World Agriculture Supply and Demand Estimates). Laut Bericht von April 2011 sind zwischen dem Jahr 2009/2010 und 2010/2011 die Endlagerbestände für Weizen und für Getreide insgesamt gesunken, und zwar sowohl weltweit als auch in den USA. Gemäß demselben Bericht sind aber die Endlagerbestände für Reis gestiegen, eine Tatsache, die Krugman in seinem Blog unterschlägt.
Auch die Entwicklung der Weizenlager ist bei einem zweiten Blick auf die Wirtschaftsstatistik nicht so klar, wie Krugman sie annimmt: Bei der Zahl für 2010/2011 handelt es sich lediglich um eine Vorhersage. Eine Untersuchung des USDA aus dem Jahr 1999 (Understanding USDA Crop Forcasts, Miscellaneous Publication No. 1554) zur Verlässlichkeit der Vorhersagen über Endlagerbestände bei Sojabohnen ergab, dass der Unterschied zwischen der Vorhersage und der endgültigen Schätzung 19 Monate später zwischen den Jahren 1981/1982 und 1997/1998 in den USA durchschnittlich 32,7 Prozent und weltweit 13,7 Prozent betrug.
Laut Vorhersage für 2010/2011 seien die Weizenlager in den USA um 13,6 Prozent gesunken. Damit liegt die vorhergesagte Lagersenkung bei Weizen von 13,6 Prozent für 2010/2011 klar innerhalb der statistischen Schwankungsbreite.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass das National Agricultural Statistics Service (NASS) ein etwas anderes Bild zeichnet. Laut Getreidelager-Statistik vom März 2011 seien die Weizenlager in den USA zwischen März 2010 und März 2011 insgesamt um fünf Prozent gestiegen.
Die Aufschlüsselung in Lager auf Farmen und kommerzielle Lager zeigt einen interessanten Unterschied: Während die Lager auf den Farmen zwischen März 2010 und März 2011 bei Weizen, Sojabohnen und Hirse abnahmen, bei Weizen sogar um 17 Prozent, sind die kommerziellen Lager gestiegen, bei Weizen um 12,8 Prozent.
Zwischen Vorhersage und Endschätzung klafft eine ansehnliche Diskrepanz. Aber auch die Endschätzung liefert kein genaues Abbild der ökonomischen Realität. Die Agrarstatistik beruht auf freiwilligen Erhebungen.
Nun ist es so, dass das Horten von Nahrungsmitteln zu spekulativen Zwecken unmoralisch und in manchen Fällen sogar strafbar ist. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass unmoralische und ungesetzliche ökonomische Aktivitäten bei Erhebungen immer stark untererfasst sind. Ein genaues statistisches Abbild der ökonomischen Realität zu erstellen scheint hier nur schwer realisierbar.

Argumentation nicht haltbar.
Was bedeuten diese Ausführungen für Krugmans These, die Endlagerbestände für Lebensmittel seien gesunken und ein Einfluss der Spekulation auf den Anstieg der Lebensmittelpreise daher auszuschließen?
Erstens ist es nicht richtig, dass die Lagerbestände steigen müssen, wenn Spekulation eine Auswirkung auf die Preisentwicklung haben soll. Es reicht, wenn die Lagerbestände mit Spekulationsfunktion steigen. Sinken gleichzeitig die Lagerbestände mit Ausgleichsfunktion, kann es sogar sein, dass sich die Lagerbestände insgesamt verringern.
Zweitens betrachtet Paul Krugman das statistische Datenmaterial unkritisch. Wird die Diskrepanz zwischen Vorhersage und Endschätzung und die wahrscheinliche Untererfassung der Lager mit Spekulationsfunktion berücksichtigt, ist nicht klar ersichtlich ob die Lagerbestände tatsächlich gesunken sind. Bei Weizen gibt es zudem Datenquellen [NASS], die zumindest für die USA einen Anstieg der Lagerbestände diagnostizieren.
Drittens sind die Endlagerbestände für Reis, einem der wichtigsten Lebensmittel, gestiegen.
Es gibt also keinen Grund anzunehmen, dass sich der Homo oeconomicus in puncto Nahrungsmittel ausnahmsweise nicht nutzenmaximierend verhält. Jedenfalls ist die Argumentation Krugmans weder argumentativ haltbar noch statistisch belegbar.

Zum Autor

Josef Falkinger
geboren 1981 in Linz, Abschluss des Studiums der Volkswirtschaftslehre in Linz 2006.
Zunächst Tätigkeit im Non-Profit Bereich, seit 2009 ist er bei der Statistik Austria in der Direktion Volkswirtschaft als Experte für immaterielle Anlagegüter in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.
Publikationen: „Die Maastricht-Kriterien und das Trilemma der neuen EU-Mitglieder“ in der Zeitschrift „Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft“ Nr. 98 (2006).

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