Die Kaugummifresser und die moralisch überlegenen Europäer

Affäre Snowden. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ gilt in der Betriebswirtschaft, sollte aber nicht Regel für die transatlantischen Beziehungen sein.

Es war nur ein Zufall: Der Höhepunkt der Empörung in Europa über die elektronische Ausspähung verbündeter Staaten durch den US-Abhördienst NSA fiel mit der Erinnerung an die Schlacht von Gettysburg vor 150 Jahren zusammen. In jenen Tagen vom 1. bis 3. Juli 1863 entschied sich der Amerikanische Bürgerkrieg. Die Schlacht war die Wende zur endgültigen Niederlage der Konföderation des Südens und damit zur Erhaltung der Union der amerikanischen Staaten.

Vier Monate später, als das fürchterliche Geschehen noch allen Amerikanern gegenwärtig war, hielt Präsident Abraham Lincoln bei der Einweihung einer Gedenkstätte für die 8000 Gefallenen eine Ansprache, die jedenfalls die kürzeste, aber eine der bedeutendsten politischen Reden der Geschichte war: die Gettysburg Address. Sie endete mit dem Wunsch, „dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk nicht von der Erde verschwinden möge“.

Die „letzte beste Hoffnung“?

Lincoln war überzeugt davon, dass der verheerende Krieg nicht nur für den Bestand der Vereinigten Staaten geführt wurde, sondern dass das moralische und politische Experiment Amerika der gesamten Menschheit gelte. Die USA seien „die letzte beste Hoffnung der Welt“ hatte er ein halbes Jahr vor Gettysburg in seiner Jahresbotschaft an den Kongress gesagt.

Noch vor ein, zwei Generationen teilte ein Großteil der Welt diese Überzeugung. Die USA hatten am Atlantik und Pazifik unter hohen Opfern zwei Diktaturen niedergerungen und danach Europa fast ein halbes Jahrhundert lang vor dem Zugriff durch eine dritte bewahrt. Aber heute? Dürfen die USA noch den Anspruch erheben, die „letzte beste Hoffnung der Welt“ zu sein, die „unersetzliche Nation“, wie sie Bill Clinton genannt hat? Jetzt, nach der Enthüllung der Praktiken eines US-Geheimdienstes, die von europäischen Bedenkenträgern gleich als Bedrohung der Freiheit der ganzen Welt ausgegeben werden?

Die USA selbst empfinden sich als Großmacht – die einzig verbliebene, und sie handeln wie eine. Ihr Anspruch ist global. „Nach wie vor sind die USA der Garant der globalen Ordnung“, hält der Berliner Strategie-Theoretiker Herfried Münkler fest. China und Russland verfolgten nur ihre eigenen Interessen. Dementsprechend grenzenlos sind die Methoden der Kontrolle, die die USA anwenden. Sie wurden den Amerikanern durch eine technische Entwicklung in die Hände gespielt, die sie ihrer eigenen Genialität verdanken.

Die Empörung der europäischen Regierungschefs ist unterdessen einer peinlichen Betretenheit gewichen. Die am lautesten protestiert haben, Angela Merkel und François Hollande, sind leise geworden. Letzterer hatte sich sogar mit der Drohung lächerlich gemacht, die Verhandlungen über ein transatlantisches Freihandelsabkommen auszusetzen, bis die USA versprächen, die Abhörung Europas einzustellen. Einer Antwort aus den USA wurde das gar nicht gewürdigt.

Man kann daran zweifeln, dass die mögliche Ausspähung buchstäblich jedes Bürgers auf der Welt, der einen Internetanschluss hat, oder jedes Amerikaners, der einen Brief aufgibt, wirklich zum Schutz vor Terror beiträgt, obwohl die USA das behaupten. Die Deutschen dürfen sich aber nicht wundern, dass sie ins Visier der US-Ermittler gekommen sind. Der Drahtzieher der Anschläge vom 11.September 2001 hatte in Hamburg gelebt. Die USA misstrauen ihren Verbündeten also nicht ganz zu Unrecht.

Mit der NSA im Bett

Hollande und Merkel haben sich unterdessen bei ihren Geheimdiensten erkundigt und erfahren, was sie schon längst hätten wissen können: Dass, wie es Edward Snowden ausgedrückt hat, die deutschen Dienste mit der NSA „im Bett liegen“ und dass die „anderen Dienste uns nicht fragen, woher wir unsere Informationen haben, und wir fragen sie nicht“. Sie sind alle Teil eines weltumspannenden Netzes des Informationsaustausches, das seine Zentrale in den USA hat.

Das hindert die europäischen Eliten freilich nicht, sich im Gefühl ihrer moralischen Überlegenheit gegenüber den USA zu sonnen. Der österreichische Außenamtsstaatssekretär Reinhold Lopatka stellt fest, dass „Snowden kein Verbrecher ist“. Das entscheidet aber nicht er, sondern darüber befinden die Gerichte in den USA, wenn sie seiner habhaft werden, womit zu rechnen ist. Auch ein lateinamerikanischer Caudillo wird Snowden nicht ewig vor dem US-Zugriff schützen können.

Caritas-Präsident Franz Küberl leistete wieder einmal einen Beitrag zur Zerstörung des Asylrechtes, indem er Snowden als Kandidaten dafür erklärt, weil der „für unsere Freiheit“ kämpfe. Und auch Heinz-Christian Strache ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, die dumpfen antiamerikanischen Gefühle der „Nationalen“ unter seiner Klientel zu bedienen.

Der wahre Krieg tobt aber einige Intelligenz- und Anstandsstufen tiefer. Internet-Poster überschlagen sich geradezu in Hasstiraden gegen „die Amis“. Es treffen einander dabei der alte Hass der Rechten, die es den USA niemals verzeihen werden, dass sie unter großen Opfern geholfen haben, Europa von den Nazis zu befreien, und ein neuer Hass, der sich antikapitalistisch geriert.

Triumphgefühle bei den Linken

Bei der Linken schwingt der Triumph mit: Endlich haben wir sie! Offen antisemitisch sind beide. Linker Kapitalismuskritik fällt es ohnehin notorisch schwer, sich vom Antisemitismus abzugrenzen.

Leute, die sich nicht korrekt auf Deutsch ausdrücken können, brüsten sich damit, die Sprache der „Dichter und Denker“ zu benützen, das amerikanische Englisch nennen sie dagegen die „Sprache der Schlächter und Henker“. Da heißen die Amerikaner auch wieder „Kaugummifresser“.

Kaugummi galt manchen nach dem Krieg als Inbegriff des dekadenten American Way of Life. Dieselben Leute hatten freilich keine Hemmungen, die ihnen von den US-Soldaten geschenkten Zigaretten zu rauchen oder die Schokolade und den „Caritas-Käse“ aus den Care-Paketen anzunehmen.

Ein Problem für die linken Antiamerikaner ist freilich Barack Obama. Wie sollen sie den „guten Präsidenten“ mit den „bösen USA“ zusammenbringen – noch dazu, da er so vieles tut, was sie eigentlich nur dem „Terroristen Bush“ zugetraut hätten? Aber sie haben einen Trick gefunden: Die Verehrung des Präsidenten verbinden sie mit einer bedauernden Sorge um das Schicksal der armen Menschen seines Landes.

Ungerührtes Washington

Die unglückselige Affäre hat das Misstrauen zwischen den Verbündeten vertieft. Der latente europäische Minderwertigkeitskomplex wird noch verstärkt durch die Ungerührtheit, mit der Washington die Proteste aus Europa quittiert.

Europa kann weder machtpolitisch noch ökonomisch und schon gar nicht militärisch mit den USA mithalten, es hält aber seine Schwäche für moralische Überlegenheit. Das verleitet die USA dazu, die eigenen Möglichkeiten zu überschätzen. Die Parole „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ gilt für die Betriebswirtschaft. In der Politik muss sie vom Kopf auf die Füße gestellt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2013)

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