Die Schule und das Prinzip Verantwortung

Bildungspolitik in Österreich. Es geht nicht um dieselbe Schule für alle, sondern um die beste für jeden. Und ein Appell an alle Eltern.

Bei der Präsentation des 37.„Jahrbuch für Politik“ hat sich diesmal eine etwas skurrile, aber bezeichnende Episode abgespielt. Einer der Teilnehmer fragte in ziemlich barschem Ton: „Kann mir jemand erklären, warum die Neue Mittelschule nicht sofort abgeschafft wird, nachdem der Rechnungshof seine vernichtende Kritik an diesem Experiment veröffentlicht hat? Sie kostet ein Vielfaches von dem, was für die Gymnasien ausgegeben wird, und ist offensichtlich trotzdem ein Misserfolg.“ Alle horchten auf, schauten betreten in die Runde, aber naturgemäß konnte niemand eine Antwort geben. Es waren keine für Bildungspolitik zuständigen Politiker anwesend.

Die Szene wirft ein Schlaglicht auf den Zustand der Bildungspolitik in Österreich. Da erweist sich ein Prestigeprojekt einer SPÖ-Bildungsministerin, von dem sich ihre Nachfolgerin nicht lossagen will, als kostspieliger Fehlschlag – und alle gehen geflissentlich zur Tagesordnung über, als wäre nichts gewesen. Auch der Koalitionspartner ÖVP fühlt sich nicht betroffen und schweigt, obwohl er in seinem künftigen Parteiprogramm ein eindeutiges Bekenntnis zur Langform des Gymnasiums abgeben wird. Das ist als ein Gegenprogramm zur flächendeckenden Gesamtschule zu verstehen, von der die Sozialdemokraten träumen.

Dass Kritik des Rechnungshofs in Österreich unbeachtet bleibt, ist man schon gewöhnt. Ob die Volkspartei ihr eigenes Programm ernst nimmt, weiß man noch nicht.

Eigentlich sollte damit die Debatte über neue Schulformen erledigt sein, sicher ist das freilich nicht. Die SPÖ will nicht von ihrer seit vielen Jahrzehnten gepflegten Lieblingsidee einer gemeinsamen Schule der Zehn-bis Vierzehnjährigen ablassen, auch weil sie damit den ungestillten Bedarf an Glaubenswahrheiten in der Partei deckt. Außerdem hat sie bemerkt, wie leicht die ÖVP in Bildungsfragen zu verunsichern ist, wenn sie fürchtet, mangelnder „Aufgeschlossenheit“ oder „Modernität“ geziehen zu werden. Gegen die schleichende, absichtsvolle Aushungerung der Gymnasien hat die ÖVP nichts getan.

Die Verfechter der Gesamtschule in der ÖVP in den westlichen Bundesländern sind auffallend still geworden. In Salzburg redet niemand mehr davon, Günther Platters Zillertal-Schule wird nicht einmal in Tirol ernst genommen. Und in Vorarlberg hat man mit alemannischem Pragmatismus und gesundem pekuniären Sinn die Chance erkannt und alle Hauptschulen zu Neuen Mittelschulen erklärt, um die enormen Fördermittel pro Jahr und Klasse zu bekommen.

Im erwähnten „Jahrbuch für Politik“ wird das Urteil des Rechnungshofs, das nur eines über die ökonomischen Konsequenzen des Fiaskos mit der Neuen Mittelschule sein konnte, aus pädagogischer Sicht bestätigt: „Anders als von der Bundespolitik erhofft, hat die neue Schule keinen nachhaltigen Einfluss auf die soziale Zusammensetzung der Schultypen.“ Gemeint ist wohl die Hoffnung, dass sich in der Neuen Mittelschule eine größere Durchmischung der Schülerpopulation nach Herkunft und sozialen Milieus ergeben werde.

Auch die Vorgabe, die NMS solle ein höheres Leistungsniveau der Schüler erreichen als die ehemalige Hauptschule, deren „Platz sie einnimmt“, ist nicht erfüllt worden. Als Hauptschule an schwierigen Standorten mit hohem Anteil an Migranten und bildungsfernem Herkunftsmilieu hat das „Profil“ die NMS charakterisiert.

Dass die Schulform nichts für den letztendlichen Erfolg einer Schulkarriere bedeutet, zeigt auch die Tatsache, dass etwa gleich viele Schüler aus der Langform des Gymnasiums zur Matura kommen wie aus Hauptschulen plus einer Oberstufenform. In den BHS überwiegen sogar die früheren Hauptschüler bei Weitem. Das System ist also hinlänglich durchlässig.

Auf die Lehrer kommt es an

Eine Studie von vier Wissenschaftlern, darunter der angesehene Professor Stephan Hopmann von der Uni Wien, verweist die Annahme, dass für „sozial ungleiche“ Schulkarrieren die angebotenen Schultypen verantwortlich seien, in den Bereich der Ideologie. „Im Zuge solcher Erwartungen wird Schule gern als fix vordefinierte Größe behandelt“, bei der es vor allem auf die Organisationsform ankomme. „Das ist jedoch nicht der Fall“, stellen die Forscher lapidar fest. „Gesamtschulartige Schulformate“ könnten Ungleichheiten sogar noch reproduzieren.

Hopmann und seine drei Kolleginnen loben das Modell der neuen niederösterreichischen Mittelschule, geben aber zu, dass auch sie nicht die „Schule für alle“ geworden sei, was das „politisch übergeordnete Ziel“ war. Am Ende kommen sie zur Binsenweisheit, dass „Schule nicht gleich Schule ist“ und dass es nicht auf die Organisation, sondern auf die „jeweilige Schul- und Unterrichtskultur“ ankomme, und „wie sie von ihren Beteiligten gestaltet wird“. Auch die Erkenntnisse der angeblich bahnbrechenden Hattie-Studie aus Neuseeland sind kaum anders: „Auf die Lehrer kommt es an.“

Ein neuralgischer Punkt im österreichischen Schulwesen vor allem in den städtischen Agglomerationen sind zweifellos die Klassen mit oft großen Mehrheiten an Schülern nicht deutscher Mutter- bzw. Erstsprache oder Familiensprache, die nur unzureichend oder gar nicht Deutsch können.

Die Antwort des Systems

Man kann sich eine Klasse vorstellen, in der ein Dutzend verschiedene Sprachen gesprochen werden. Zu den Schwierigkeiten mit der Sprache kommen bei vielen Schülern noch soziale Probleme. Das Wort von den „Ghettoschulen“ für eigene Klassen, in denen Kinder, die nicht Deutsch können, von Speziallehrern unterrichtet werden, damit sie möglichst bald dem Unterricht in einer normalen Klasse folgen können, ist eine ärgerliche ideologische Polemik.

Ein Kind, das ohne Deutsch zu können, in eine Klasse gesteckt wird, wo niemand auf seine Situation eingehen kann, wird sich selbst und den Mitschülern eine Last und befindet sich dann wirklich in einer Ghettosituation.

Das System antwortet auf die vielen Herausforderungen zumindest in der Theorie mit einem Konzept der Totalverwaltung und letztlich Entmündigung von Schülern, Eltern und Schule. Da werden außer „normalen“ Klassenlehrern noch Speziallehrer für jede der in der Schule vorkommenden Sprachen, Superviser, Sozialarbeiter, Beratungslehrer, Lehrer für Deutsch als Zweitsprache, Experten für Alphabetisierung, Diversitätsexperten, Sprachförderlehrer, Freizeitpädagogen, Schulpsychologen, Mentoren gebraucht.

Stets Bedarf für mehr Personal

Die Liste ist nicht erfunden. Es wird immer Bedarf für noch mehr Personal und noch mehr Mittel geben, und alles wird als berechtigt erscheinen. Wenn man es hochrechnet, kommt am Ende auf einen Schüler etwa eine Lehrperson.

Das ist unorganisierbar und unbezahlbar, es ist auch im Ansatz falsch. Man wird letztlich nicht um Deutsch als Lingua franca herumkommen und alles tun müssen, damit die Kinder es ohne Umwege lernen. Und man wird letztlich nicht auf das Prinzip Verantwortung verzichten können. Eltern – ob Migranten oder eingeborene Österreicher – müssen begreifen, dass sie für die Schulkarriere ihrer Kinder mitverantwortlich sind.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger
Leiter der Wiener Redaktion der
„Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2015)

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