Ruhe als oberste Pflicht des guten Regierens

"Nicht streiten!": Die falschen Mechanismen in der jetzigen Koalition von SPÖ und ÖVP werden allem Anschein nach weiter intakt bleiben.

So schlecht kann es der SPÖ gar nicht gehen, dass sie nicht einen Personalwechsel an der Spitze entschlossen und schnell über die Bühne bringen würde. Es ist typisch für die Partei, dass sie keinen Kandidaten aus dem Kreis der Minister oder höheren Parteifunktionäre für den Posten brauchte (und ihn auch nicht gehabt hätte), sondern dass der neue Parteichef aus der staatsnahen Wirtschaft kommt.

Dort macht die SPÖ immer noch eine sehr effektive Personalpolitik, dort hat sie dementsprechend ihre letzten Personalreserven. Christian Kern ist, um es etwas paradox zu sagen, gar nicht das letzte Aufgebot, er war das einzige.

Damit ist auch schlagartig vergessen, dass die SPÖ mit Werner Faymann acht Jahre lang einen Bundeskanzler gestellt hat, unter dem das Land einen in der jüngeren Geschichte nicht da gewesenen Abstieg erlebt hat. Der Erzbischof von Wien war der Einzige, der dem ehemaligen Kanzler einen geradezu warmherzigen Abschied bereitete und seine Verdienste rühmte – nicht ohne zu insinuieren, dass es eigentlich der Koalitionspartner gewesen sei, der verhindert habe, dass Faymann ein noch bedeutenderer Kanzler werden konnte. Wären nicht Sebastian Kurz und Reinhold Mitterlehner gewesen, hätte der gute Faymann nicht seinen Kurs in der Flüchtlingspolitik ändern müssen. Damit ist der Grundstein zur polithistorischen Legendenbildung über Werner F. gelegt.

Folgerichtig ist es jetzt auch der Koalitionspartner, von dem es allein abhängt, ob Kern ein großer Bundeskanzler werden darf. Alle müssten sich jetzt um ihn scharen, das oberste Gesetz heißt „nicht streiten!“ – was natürlich als Aufforderung an die ÖVP gemeint ist, brav zu sein und mitzuspielen bei dem Stück „Neues Regieren“ unter der Leitung von Christian Kern. Dieser darf von nun an auch nicht mehr kritisiert werden, lesen wir, das wäre nämlich „Retropolitik“.

Die Volkspartei, immer disponiert, sich zu fürchten, spielt dabei gehorsam mit. Auch aus der eigenen Partei bekommt Mitterlehner die Aufforderung, jetzt nicht womöglich eigene politische Ideen zu haben oder Initiativen zu ergreifen und damit die Einigkeit der Regierung zu stören. „Ruhe“ sei jetzt die oberste Politikerpflicht, teilt ihm der Landeshauptmann von Salzburg per Zeitungsinterview mit. Im VP-Parteivorstand soll auch die Angst vor der eigenen Courage dominiert haben, hört man.

Das weitere Szenario ist damit vorgezeichnet: Sobald Kern und die SPÖ es für günstig halten, werden sie den Absprung in Neuwahlen suchen. Das wird dann der Fall sein, wenn ihr die Umfragen einen ausreichenden Vorsprung vor der ÖVP verheißen und sie damit die Sicherheit hat, auch nach der Wahl wieder den Kanzler zu stellen.

Die ÖVP als Spielverderberin

Für eine Neuauflage der Koalition mit der ÖVP würde man nach jetzigem Stand jedenfalls die Grünen brauchen. Am besten sollten auch die Neos (falls es diese dann noch gibt) dabei sein. Das wäre nach einem Diktum von Andreas Khol die „Dritte Republik“, weil die ÖVP in einer solchen Kombination systematisch majorisiert werden würde und ihr die Rolle des Spielverderbers zugedacht wäre, der aus „sozialer Kälte“ die Wohltaten, die die anderen dem Volk zugedacht haben, verhindert.

Die SPÖ scheint aber auch schon für einen anderen Fall vorgesorgt zu haben: eine Koalition mit der FPÖ. Einen „Kanzler Strache“ – unterdessen ist das sogar schon international als Schreckgespenst gebräuchlich – muss es dabei nicht unbedingt geben, auch wenn die FPÖ die stärkste Partei geworden sein sollte, was ebenfalls nach jetzigem Stand der Dinge sehr wahrscheinlich ist.

Jörg Haider hat seinerzeit Wolfgang Schüssel den Kanzlerposten überlassen, obwohl die FPÖ (um ominöse 415 Stimmen) stärker war als die ÖVP. Das könnte sich jetzt wiederholen, wenn sich in der FPÖ diejenigen durchsetzen, die in die Regierung wollen. Sie wissen zugleich, dass das nur geht, wenn sie auf den Kanzlerposten verzichten. Die SPÖ wäre sicher bereit, dafür einen guten Preis zu zahlen. Für die Oppositionsfundamentalisten stellt sich die Frage ohnehin nicht.

Eine FPÖ-SPÖ-Koalition hätte durchaus ihre Logik: Die SPÖ wäre dann gewissermaßen ihren Wählern nachgezogen. Eine bessere Rückholaktion als eine Regierung mit der FPÖ lässt sich nicht denken. Das hat auch zwischen 2000 und 2002 so funktioniert. In nur zwei Jahren in der Regierung fiel die FPÖ von 26,9 auf zehn Prozent zurück. Dass ist einer der Gründe für die tiefe Abneigung, die in der FPÖ gegen die ÖVP herrscht. Sie zu überwinden ist von beiden Seiten nichts getan worden.

Linke wird nicht aufmucken

Außerdem passen die Ideenwelten des sozialistischen Volksheims und der (jetzt nicht mehr deutsch-, sondern österreichisch-) nationalen Volksgemeinschaft ganz gut zusammen. Sie sind ja zur selben Zeit entstanden.

Und die Linken in der SPÖ? Sie verstehen ganz gut, was es bedeutet, an der Macht zu sein und den Kanzler zu stellen. Ihr Widerstand wird gering sein. Ebenso wenig hätten die beiden Parteien die Empörung des Auslands zu befürchten, wie sie im Jahr 2000 wegen der schwarz-blauen Koalition über Österreich hereingebrochen ist.

Auch und erst recht mit einem Bundeskanzler Kern wird die ÖVP wieder vor der Frage stehen: Wer will sie sein und hat sie eine Alternative zum allgütigen, bevormundenden Wohlfahrts- und Verteilungsstaat anzubieten, der seine Anhänger ja auch weit hinein in ihre eigenen Reihen hat? Diese müsste sie sowohl gegenüber der SPÖ als auch gegenüber der FPÖ in Stellung bringen.

Anders als die Linke, für die die Macht an sich der Zweck der Politik ist, muss sich eine bürgerliche Partei wie die ÖVP die Frage stellen, wozu sie die Macht haben will. Mit anderen Worten: Hat sie den Willen, für eine bürgerliche Wende einzutreten und traut sie sich zu, sie in ihrer alltäglichen Politik zu verwirklichen?

Das Dilemma des Zweiten

Das eigentliche Problem der ÖVP ist, dass sie in der jahrzehntelangen Praxis der Koalition mit der SPÖ verlernt hat, an die eigene Botschaft zu glauben. Sie müsste den Anspruch der Linken bestreiten, allein die politische Moral gepachtet zu haben. Dazu braucht es Verstandesschärfe und den Mut, dem Druck der öffentlichen Meinung zu widerstehen. Für eine überzeugte und handlungsstarke Politik lässt sich durchaus auch mediale Unterstützung finden. Und selbst wenn man diese Unterstützung nicht hat, müssen die Medien nolens volens die Geschäfte dessen betreiben, der entscheidet und handelt.

Die Aufforderung, jetzt doch nicht schon wieder „zu streiten“, zeigt das Dilemma des Zweiten (des „Juniorpartners“ – woher kommt eigentlich der seltsame Ausdruck?) in einer Koalition zweier Parteien, die eigentlich nichts miteinander verbindet. Auch mit der größten Dialektik sind die nötige Zusammenarbeit und zugleich die Verfolgung der eigenen politischen Ziele nicht unter einen Hut zu bringen.

Wenn jetzt bemerkt wird, dass Mitterlehner immerhin besser dran sei als seine Vorgänger, weil er Werner Faymann „überlebt“ hat, ist das nur ein müder Scherz. Für ihn und seine Partei wird mit Kern nichts besser.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2016)

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