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Sebastian Kurz und die katholische Soziallehre

Wie christlich-sozial ist die ÖVP? Kirchliche Gruppen polemisieren schon seit Längerem gegen die ÖVP, deren Richtung nicht mehr stimme. Dabei ist nicht leicht auszumachen, was zum Bruch dieser Kreise mit der Volkspartei geführt hat.

Als Sebastian Kurz den ersten Teil seines Wahlprogramms vorstellte, das sich mit Wirtschaft und Sozialem beschäftigt, sagte er auf Nachfrage, er verstehe sein Programm als durchaus christlich-sozial. Auch wenn man darüber streiten kann, was nun genau christlich-sozial bedeutet, wird man in den Vorschlägen, die Kurz macht, nichts finden, das einem solchen Anspruch nicht genügen würde. Das gilt auch für die Reformen, die er an diversen Sozialleistungen vornehmen möchte.

Unvermeidlicherweise meldeten sich in sozialen Netzwerken Stimmen der Entrüstung: Man solle Sebastian Kurz bitte ein Kompendium der katholischen Soziallehre schicken oder am besten den Papst bitten, Kurz anzurufen. Beides dürfte schwierig sein, denn ein „Kompendium“ der katholischen Soziallehre gibt es nicht. Es sei denn, man nähme das weder in der Öffentlichkeit noch in der Fachwelt beachtete „Ökumenische Sozialwort der Kirchen“ vor 15 Jahren für eine authentische Auskunft darüber, was heute katholische Soziallehre ist oder sein könnte.

Kurz hatte allerdings gar nicht behauptet, sein Programm sei die Verwirklichung der katholischen Soziallehre. Er nahm das Wort gar nicht in den Mund, für das übrigens ähnlich wie für das Christlich-Soziale gilt, dass es nur schwer zu definieren ist. Aber die Kurz-Kritiker scheinen die beiden Begriffe inhaltlich weitgehend gleichzusetzen, was nur teilweise berechtigt ist. Christlich-sozial muss einen weiteren Raum des Politischen umfassen.

Mit Kurz, ohne ihn mit Namen zu nennen, beschäftigt sich auch der emeritierte Theologieprofessor Paul Zulehner in einer „Orientierung“ zur Wahl. Zulehner berichtet darin von einem 80-jährigen Pfarrer, der ihm gesagt habe, er werde wohl das erste Mal in seinem Leben nicht die ÖVP wählen. Viele engagierte Christen hätten ihre politische Heimat in der christlich-sozialen ÖVP gehabt, schreibt der Theologe, nun aber „irritiert sie die politische Praxis vieler Parteien, zumal in der Flüchtlingsfrage“.

„Viele Parteien“ wird nur als Feigenblatt gebraucht, gemeint ist die ÖVP. „Nicht wenige meiner christlichen Glaubensschwestern und Glaubensbrüder“ hätten den Eindruck, dass „die Richtung erkennbar nicht mehr stimmt“ und würden „rat- und nach und nach politisch heimatlos: wie eben der von Zulehner eingangs erwähnte ältere Pfarrer.“

Die Rede von der „ehemals christlich-sozialen ÖVP“ gibt es schon seit Längerem. Viel länger jedenfalls, als Kurz ihr Obmann ist. Alexander Van der Bellen etwa verwendete sie gern, als er noch ein Grüner und nicht der Bundespräsident war, um anzudeuten, sie sei die eigentlich christliche.

Busek und Schüssel

Es ist nicht leicht auszumachen, was zwischen diesen zwar kleinen, aber eifrig schriftlich tätigen katholischen Kreisen und der ÖVP eigentlich vorgefallen ist. Es mutet wie eine zerbrochene Beziehung an und hat mit eigenen oder öfter noch den Biografien der Eltern zu tun. Erhard Busek, Jahrgang 1941, ist der eigentliche Bezugspunkt, er gilt als der letzte ÖVP-Obmann, der noch christlich-sozial war.

Der Bruch geschah zwischen Busek und Wolfgang Schüssel. Paradoxerweise ist gerade Schüssel von in- und außerhalb der ÖVP immer dafür kritisiert worden, dass er in Fragen, bei denen es um Ethik ging, zu katholisch und konservativ – also doch wohl auch christlich-sozial war. Schüssel verzeiht man aber nicht, dass er getan hat, was sich Busek nicht getraut hat, nämlich nach der Macht zu greifen. Und das war an der Wende von 1999 zu 2000 eben nur mit der FPÖ möglich. Eigentlich gehöre es sich nicht für die ÖVP, den Bundeskanzler stellen zu wollen, und das gilt jetzt auch für Kurz.

Was Kurz in der, wie sie genannt wird, „Flüchtlingsfrage“ konkret vorgeworfen wird, erfährt man nicht; ebensowenig, warum er den „Christinnen und Christen“ aus dem Zulehner-Freundeskreis und aus dem Umkreis der katholischen Aktion nicht katholisch und christlich-sozial genug ist.

Die beliebten Denunziationsvokabel „neoliberal“ und „rechtspopulistisch“, die in den Postings vorwurfsvoll auf Kurz gemünzt werden, sind sinnlos und haben keinen analytischen Wert. Dabei ist es leider eine Frage, ob die katholische Soziallehre in ihrer heutigen Gestalt, besonders in Österreich, für Kurz überhaupt eine Orientierung sein sollte.

Also sprach der Kardinal

Eine Ahnung davon bekommt man, wenn einem ein Funktionär der katholischen Aktion erklärt, die Finanztransaktionssteuer sei „zutiefst im Herzen der katholischen Soziallehre und ihren Prinzipien verankert, genauso etwa wie die Forderung nach einem Grundeinkommen“. Erstere wird vermutlich dem „Solidaritätsprinzip“ zugeordnet. Wie sich aber ein arbeitsloses Einkommen mit einer Lehre vereinbaren lässt, in der die Arbeit als Teil der Würde des Menschen verstanden wird, erschließt sich nur schwer.

Im Übrigen wird auch der Papst nicht müde, die Schaffung von Arbeit, vor allem für die Jungen, als eine der wichtigsten Aufgaben der Politik zu bezeichnen.

„Auch von Seiten der Kirche besteht eine gewisse Gefahr, die Grundvollzüge der Wirtschaft mit dem Verdacht des Unsozialen oder Unmoralischen zu bedenken. Ohne Freiheit des Marktes, ohne eine gewisse Gewinnorientierung und ein Erfolgsinteresse kann keine Wirtschaft im Kleinen und Großen gedeihen. Nicht der Markt ist böse, nicht die freie Wirtschaft mit ihrem Spiel von Angebot und Nachfrage.“ Diese Sätze stammen nicht etwa von Margaret Thatcher, sondern von Kardinal Christoph Schönborn. Er hat das freilich schon gesagt, bevor Papst Franziskus von der „Wirtschaft, die tötet“ geredet hat.

Die katholische Soziallehre habe sich zu einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus entwickelt, konstatiert kritisch Martin Rhonheimer, katholischer Priester und Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom sowie Präsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien. Sie sei in einen „ökonomisch unaufgeklärten Moralismus“ verfallen.

Option für die Armut lockt

„Sozial handelt nicht, wer gute Absichten hat, sondern wer gesellschaftliche Probleme löst“, formuliert Rhonheimer und bricht eine Lanze für das Unternehmertum, das „der blinde Fleck“ der katholischen Soziallehre sei. „Kapitalisten verwenden ihren Reichtum in eminent sozialer Weise. Denn sie verkonsumieren ihn nicht, sondern investieren den größten Teil. So schaffen sie Arbeitsplätze, zahlen Löhne, was wiederum die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen generiert, die ihrerseits neue Investitionen und unternehmerische Projekte lohnend machen.“

Das muss ungeheuer provozierend in den Ohren jener kirchlichen Funktionäre klingen, die eine Bedarfsdeckungswirtschaft statt „neoliberaler“ Gewinnmaximierung propagieren. Offensichtlich lockt sie neben der ominösen „Option für die Armen“ auch die Option für die Armut.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjährigerLeiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2017)

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