Über Sinn und Wesen des Reißverschlusses

Oder: Wie es mir bei der Begegnung mit einer Landsmännin die Sprache verschlug.

Wenn der Wiener so verdutzt ist, dass ihm nichts mehr einfällt, dann ist er schmähstad. Steht indes der Deutsche plötzlich sprachlos da, dann ist er baff. Der lautliche Unterschied könnte größer kaum sein: Während unsereins beim verdutzten Verstummen mit einem Geräusch implodiert, das aus einem Comic stammen könnte (Paff!), büßt der Wiener seinen Witz mit zähem ä und langem a ein.

Unlängst war ich in einem solchen Zustand, und da sich meine Sprachlosigkeit einer denkwürdigen deutsch-deutschen Konfrontation verdankte, bestehe ich darauf, dass ich baff war, nicht schmähstad. Folgendes hat sich ereignet: Am Silvestertag hatten sich vor den Kassen eines großen Wiener Supermarkts Schlangen mit Einkaufswagen gebildet, deren Inhalt halb Liechtenstein hätte vorsorgen können. Die Reihe, in der ich stand, wurde dummerweise gleich von zwei Gängen gespeist, sodass sie nach kurzer Zeit begann, sich zu verdoppeln. Da sich aber die Kasse am Ziel nicht mit verdoppelte, entstand bald das akute Problem: Wer zuerst?

Nun lernt schon jeder deutsche Autofahrer in der Fahrschule, wie man so etwas akkurat und effizient löst: mit dem sogenannten Reißverschlussprinzip. Es ermöglicht, dass sich zwei Schlangen an einem neuralgischen Punkt brüderlich zu einer einzigen vereinigen. Lernt man das in Österreich eigentlich auch? Der Deutsche mit seinem natürlichen Hang zur Disziplin ist ja für so etwas wie geschaffen. Ist ein prima Prinzip, dieser Reißverschluss, jeder weiß exakt, wann er an der Reihe ist. Wären da nur nicht all die südländisch temperierten Quertreiber und Vordrängler, denen es an der nötigen Disziplin mangelt.


Doch zurück zu meinem baffen Moment. Kurz bevor meine Kassenschlange und die Reihe links neben mir auf den Punkt zusteuern, wo der Reißverschluss sich schließen sollte, beginnt sich rechts von mir eine dritte Schlange zu bilden. Was mir prinzipiell wurscht wäre, wenn die junge Frau da zu meiner Rechten nicht justament vor meinem Wagen um Einlass ränge. Also so nicht! Ja, kapiert die denn nicht, dass der Reißverschluss, der aus drei Linien besteht, noch nicht erfunden ist? Ein paar Stunden in einer deutschen Fahrschule, und die Ausreißerin wäre reif für Salomons Reißverschlüsse. Wetten?

Ich versuche der Frau klarzumachen, dass sie auf dem Holzweg ist und buchstäblich aus der Reihe tanzt. Und sie antwortet mit spöttischem Blick: „Ah ja? Na so was. Zu wenig Ordnung, was?“ An ihrem „wenich Ordnung“ erkenne ich, dass sie eine Deutsche ist. Dann schert sie aus der Reihe aus, dreht sich noch einmal um und sagt: „Übrigens: Gutes neues Jahr noch. Und nicht vergessen: Immer schön Ordnung halten!“


Da war ich baff. Was für eine Situation: Eine Deutsche wirft einem Landsmann vor, dass er sich typisch deutsch daneben benimmt. Ohne es offen auszusprechen. Und das in einem Wiener Supermarkt.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.01.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.