Mein Erstkontakt mit einem Hofrat

Ein paar Momente der Entgeisterung oder: Mein Erstkontakt mit einem Hofrat und mit dem österreichischen Schulsystem.

Wer in Österreich auf eine Schularbeit einen Fünfer bekommt, der ist beschmutzt. Er hat einen „Fleck“ davongetragen. Immerhin, einen Fleck kann man bedecken oder wegrubbeln. Die Deutschen kennen noch eine Steigerungsstufe zum Fleck: die Sechs, das „Ungenügend“, das es im österreichischen Schulkosmos nicht gibt. Ein Sechserkandidat ist ein hoffnungsloser Fall: „Setzen, sechs!“

In meinen ersten Jahren in Österreich hat mir eine Wiener Freundin einmal eine Deutschschularbeit ihrer fünfzehnjährigen Tochter gezeigt, einen Aufsatz über ein Meinungsthema. Es war eine gute Arbeit, engagiert, mit Verve argumentiert, manchmal auch witzig. Das Ergebnis: Fleck. Begründung: acht Rechtschreib- bzw. Beistrichfehler. Zum Inhalt keinen Kommentar.

Als Kind der deutschen Reformpädagogik der Siebzigerjahre war ich entsprechend entgeistert. Ein Lehrer darf eine Fünf geben, egal, ob der Inhalt gescheit ist oder dumm? Eine derart absolute und plumpe Dominanz der Form über den Inhalt hätte zu meiner Schulzeit Eltern wie Schüler auf die Barrikaden getrieben. Wie ist es möglich, dass man sich hierzulande dieses k.u.k. Relikt aus den Zeiten des Rohrstock-Formalismus so lange hat gefallen lassen? Vom Lehrplan war so etwas längst nicht mehr gedeckt. Es musste doch jedem klar sein, dass man auf diese Weise einem Schüler mit wackliger Rechtschreibung jede Motivation nimmt, noch einmal einen anspruchsvollen Gedanken zu formulieren. Es ist die sicherste Methode zur Hervorbringung denkfauler Schüler – und Lehrer.


In meiner Studienzeit habe ich mich als Nachmittagsbetreuer an einer Wiener Schule beworben. Mein Job hätte darin bestanden, darauf zu achten, dass die Kids ihre Nase in die Schulhefte stecken. Ich musste dafür beim Stadtschulrat vorsprechen, einem Hofrat. Der wollte einiges von mir wissen, nicht etwa, was ich studiere, sondern ob ich eine Freundin hätte und plane, in Österreich zu bleiben. Dann führte er mich in einen Nebenraum und sagte zu einem Mitarbeiter: „Rudi, hier haben wir einen bundesdeutschen Studenten, der vorhat, in Österreich zu ehelichen.“ Davon war zwar keine Rede gewesen, aber Herr Rudi trug mich freudig in eine Liste ein und rief mich nie zurück.

Bald darauf erfuhr ich, dass es rote und schwarze Schulen gibt, und dass ein Direktor entsprechend getüncht sein muss, um an seinen Job zu kommen. Tünche reicht völlig, der Rest ist Formsache.

Die Schule ist offenbar jener Bereich der österreichischen Gesellschaft, auf den die Bürger am wenigsten Einfluss zu haben glauben, ein Raum der machtvollen Äußerlichkeiten, geschützt vor dem Zugriff der Zivilgesellschaft. Kein Wunder, dass bisher jede Reform im Sande verlaufen ist.

dietmar.krug@diepresse.com

diepresse.com/diesedeutschen

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2013)

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