Zivilisationsbruch

Alle haben es, nur die Deutschen nicht: Ein generelles Tempolimit auf Autobahnen. Über den ganz alltäglichen Zivilisationsbruch.

Als ich ein Kind war, ermahnte mich mein Vater, ich dürfe mich niemals in einer Garage aufhalten, in der ein Auto mit laufendem Motor steht. Ich war überrascht. Die Luft, die aus etwas so Kostbarem wie einem Auto kam, sollte schädlich sein? – Zur selben Zeit, tausend Kilometer südöstlich: Meine Freundin sitzt im Wagen ihres Vaters, ihr ist kotzübel. Es stinkt nach Benzin in dem alten VW Variant, und das Mädchen ist überzeugt davon, dass VW eine unmoderne, also österreichische Automarke ist. In den Audis, BMWs und Mercedes, mit denen die deutschen Gäste in ihr steirisches Dorf kommen, riecht es sicher ganz anders...

Dass meine Landsleute größere Autonarren sind als die Österreicher, bezweifle ich. Doch in einer Hinsicht ist mein Heimatland eine weltweite Ausnahme unter den Industriestaaten: Es gibt kein generelles Tempolimit auf Autobahnen. Zwar wurden immer wieder Initiativen gestartet, die Lizenz zur Raserei zu beenden. Aber bislang hat noch keine Bundesregierung, nicht einmal die rot-grüne, es gewagt, diesen Aberwitz abzustellen. Zu groß ist die Angst vor der Rache des Wählers.


„Ich bin ein Kanzler aller deutschen Autos“, hat Gerhard Schröder einmal gesagt. Und als er gefragt wurde, wie er zu einem Tempolimit stehe, das seine Partei noch auf der Oppositionsbank gefordert hatte (und inzwischen wieder fordert), meinte er: „Unsere Autos sind für hohe Geschwindigkeiten ausgelegt.“ Das Erstaunliche an dieser Antwort ist, dass sie nicht von Silvio Berlusconi stammt. Denn erstens hätte sie perfekt zu dessen intellektueller Ausstattung gepasst, und zweitens haben die Italiener mit ihren Ferraris, Maseratis und Lamborghinis weiß Gott genug Geschosse, die noch für ganz andere Tachostände geschaffen sind.

„Freie Fahrt für freie Bürger“ stand auf den Aufklebern, mit denen die deutsche Autolobby schon Mitte der Siebzigerjahre ihre Kampagne gegen ein generelles Tempolimit startete. Was für ein Freiheitsbegriff! Doch die Schöpfer des Slogans wussten genau, worauf sie abzielten: Sollte der deutsche Bürger, tagein, tagaus gegängelt von äußeren wie inneren Zwängen, auch noch sein letztes Restchen Freiheit verlieren, das Recht, zumindest auf dem Asphalt zum Büro seinen rasenden Freiheitsdrang auszuleben? Es ist doch kein Zufall, dass ausgerechnet Deutschland, der so oft beschworene Hort von Disziplin und lückenloser Ordnung, ein derart menschenfeindliches Ventil nötig hat.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2011)

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