Wir müssen länger leben als die Gewalt

Als „feige“ werden die Morde der Jihadisten oft bezeichnet. Doch trifft das ihre Niedertracht wirklich?

Die Morde des IS sind schändlich, böse, gemein, niederträchtig, dumm. Viele pejorative Adjektive sind ihnen angemessen, doch Politiker und Journalisten wählen auffällig oft ein anderes: feige. Wohl weil ihnen die Feigheit besonders verächtlich scheint. Oder weil sie glauben, dass die Jihadisten so fühlen, dass dieser Vorwurf am meisten ihre Ehre kränkt. Was uns egal sein sollte: Wir haben – hoffentlich – einen anderen Begriff von Ehre als Islamisten. Wir fühlen unsere Ehre nicht verletzt, wenn unsere Schwestern und Töchter außerehelichen Sex haben oder wenn jemand unseren Glauben (oder Unglauben) kritisiert oder verspottet, nur zum Beispiel. (Die Christen unter uns dürfen ganz programmatisch sagen: Unser dornengekrönter Gott ist über Spott erhaben, er hat ihn hinter sich.)

Aber passt das Wort „feige“ wirklich auf die IS-Morde? Im ursprünglichen Wortsinn ja: Im Altgermanischen hieß es so viel wie todgeweiht, dem Tod verfallen. Wer sich feige verhielt, handelte wie ein Todgeweihter, daraus wurde in skandinavischen Sprachen die Bedeutung „verrückt“, im Deutschen zunächst „verhasst“ und erst dann, in einer seltsamen Umkehr, die heutige Bedeutung: auf tadelnswerte Weise mutlos.

Mutlosigkeit kann man den Attentätern – leider – nicht attestieren: Wer sich selbst in die Luft sprengt, wer, angeblich bestärkt durch eine grotesk konkrete Jenseitshoffnung (72 Jungfrauen, 80.000 Diener und dergleichen), das eigene Leben wegwirft, um andere Leben zu zerstören, der handelt böse und dumm, aber nicht mutlos, nicht feige im heutigen Sinn.

Ein Vorschlag: Wenn Feigheit bedeutet, dass einem das Leben – auch das eigene – wertvoll ist, dann stehen wir doch offensiv zur Feigheit! Verachten wir die Gotteskrieger, weil sie das Leben – anderer und ihr eigenes – verachten! Verachten wir ihre dumme, lächerliche Heldenattitüde! Unsere Werte brauchen keine Menschenopfer!

„Unglücklich das Land, das keine Helden hat“, sagt in Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ der Schüler Andrea Sarti zu Galileo Galilei: „Nein“, antwortet der Meisterphysiker: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ Die Zivilisation braucht Moral und Recht, gewiss, sie braucht auch Mut, aber in Maßen, sie braucht keinen Todesmut. Sie darf mitunter sagen, wir dürfen mitunter sagen, was der Herr Keuner sagt: „Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muss länger leben als die Gewalt.“

E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2015)

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