Schlimmer als der Verdacht auf Paranoia: Psychopathen mit Paranoia

Wie lange braucht die Administration der USA noch, um wesentliche Zusätze ihrer Verfassung außer Kraft zu setzen? Fangen wir mit dem recht simplen Begriff der Redefreiheit an.

In Philadelphia, dieser 1681 im Geist der Bruderliebe gegründeten Stadt, steht an der Independence Mall ein simpler Gedenkstein, in den der erste Zusatzartikel der Verfassung der USA eingemeißelt wurde. Da er so wunderbar klar formuliert ist, soll er hier ganz zitiert werden.

Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das eine staatliche Einrichtung von Religion zum Gegenstand hat oder deren freie Ausübung verbietet oder die Rede- oder Pressefreiheit einschränkt, oder das Recht des Volkes, sich friedlich zu versammeln und die Regierung um die Beseitigung von Missständen zu ersuchen.

Früher, als Gründerväter noch Monumente schufen, die dauerhafter waren als Erz, konnte man sich darauf verlassen, dass solch menschenfreundliche Ideen respektiert wurden. Heute aber, in manipulativen Zeiten systematischen Ausforschens, scheint nur eines sicher zu sein: Wer so kühn ist, im Internet die Aufdeckung von Missständen der Regierung oder gar das Recht auf Redefreiheit einzufordern, kann garantiert damit rechnen, dass spätestens beim Wort „US-Administration“ Schnüffler der NSA und ihrer befreundeten Hilfsdienste klammheimlich in fremde Personalcomputer eindringen und die Festplatten durchforsten.

Wer nun meint, das Gegengift habe eine Überdosis Paranoia abbekommen, sehe, was unlängst Ladar Levison passiert ist. Er war der Chef des E-Mail-Dienstes Lavabit. Einer der Kunden: Edward Snowden, den die USA als Staatsfeind jagen, weil er angeblich Missstände seiner Regierung beseitigen wollte, indem er Massen inkriminierender Dokumente der NSA veröffentlichte. Er sitzt nun in Moskau und hat eine Krise zwischen den USA und Russland ausgelöst.

Levison hingegen hat seine Firma zugesperrt, unter Zwang. Die US-Behörden ließen ihm kaum eine andere Wahl. Sie wollten an die Kundendaten. An alle. Der Firmenchef lehnte diese unsaubere Kooperation unter Protest ab. Er dürfte ein guter Amerikaner sein, der die Verfassung respektiert. Sein Staat aber machte ihn mundtot. Levison darf nicht über die Angelegenheit sprechen.

Man muss keinen Verfolgungswahn haben, um zu argwöhnen, dass die Regierung Obama durch solche Aktionen auch ihre Verfassung fesselt und knebelt. Herrscht im Land der Tapferen und Freien bald nur noch stille Willkür eines Staatssicherheitsdienstes? Noch scheint das übertrieben, aber Argwohn wird zur Tugend, wenn der große Bruder an große Daten will. Es gibt außerdem Schlimmeres als Paranoia – Psychopathen mit Paranoia, wie Al Capone. Die befriedigen ihren Wahn, indem sie Leute liquidieren lassen. Zuweilen treten sie auch als Retter der Menschheit auf.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2013)

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