Im Netz gefangen: Das nächste „Oxford English Dictionary“

Die Arbeit der Philologen gleicht dem Wettlauf zwischen Hase und Igel: Wer heute ein umfassendes Wörterbuch schaffen will, braucht viel Zeit.

Auf ihrer Homepage geben die fleißigen Wörterbuchmacher aus Oxford ein wenig mit dem Reichtum ihrer Sprache an. 600.000 Wörter aus gut 1000 Jahren habe man im „OED“ (dem „Oxford English Dictionary“) online bisher gesammelt, angereichert durch gut drei Millionen Zitate. Das ist für das Team der britischen Linguisten die „ultimative Aufzeichnung“ des Englischen. Zur Ermunterung der Nutzer (oder gar der Leser) auf dem Weg zur Meisterung all dieser Wörter wird Lewis Carroll zitiert, der in Wortspiele verliebte Schöpfer von „Alice im Wunderland“: „What a comfort a Dictionary is!“

Da kann die lexikografische Abteilung des Gegengiftes nur zustimmen und Humpty Dumptys Methode aus „Through the Looking Glass“ erwähnen: „When I use a word, it means just what I choose it to mean – neither more nor less.“ Worauf die kluge Alice meint: „The question is, whether you can make words mean so many different things.“ Diese Fülle an Bedeutung bereitet nämlich schlaflose Nächte.

Dem „Country Life“ verriet Michael Proffitt, der Cheflektor des „OED“, dass es künftig wohl keine gedruckte Gesamtausgabe dieses Standardwerkes geben werde. Der Grund: Überinformation. Eigentlich sollte bereits in diesem Jahr die dritte Ausgabe erscheinen – das „OED3“, an dem man vor zwanzig Jahren zu arbeiten begonnen hat, doch die Wissenschaft ist im Verzug. Eher wird es nach derzeitigem Stand erst 2034 vollendet sein. Weil die Wortklauber sorgfältig arbeiten, weil sie alle verfügbaren Quellen auswerten und weil die Fülle an Text in der Ära des Internets exponentiell angeschwollen ist, zieht sich die Verarbeitung. Ein Wortprozess ohne Ende.

Überhastetes Vorgehen konnte man bereits den Schöpfern der Erstausgabe des „OED“ nicht unterstellen. Das Projekt der Philological Society begann 1857, den Titel fand man 1895, die kompletten zwölf Bände erschienen 1928. Da war ihr fleißigster Herausgeber, Sir James Augustus Henry Murray, seit 13 Jahren tot. Man muss sich das Leben dieses Gelehrten mit raumfüllenden Zettelkästen als höllisches viktorianisches Idyll vorstellen.

Bis 1986 waren in der Blütezeit des Buchdrucks vier Supplement-Bände nötig, die zweite Gesamtausgabe von 1989 hatte bereits 20 Bände: Mehr als 300.000 Haupteinträge, doppelt so viele Wortformen, 2,5 Millionen Zitate für den richtigen Gebrauch der Sprache. 21.730 Seiten umfasst dieses aktuelle – gedruckte – Wörterbuch.

Für die dritte Ausgabe sind es bisher bereits gut doppelt so viele Einträge, inoffiziell sogar 800.000. Dieser ungeheure Umfang macht eine Printversion inzwischen recht unwahrscheinlich: „RIP for OED“, es „ruhe in Frieden“, trauerte unlängst der konservative „Daily Telegraph“. Das feinste Wörterbuch der Welt, an dem derzeit 70 Philologen emsig arbeiten, wird zur Sisyphusarbeit. Sein Team schafft die Definition von 50 bis 60 Einträgen pro Monat. Vor 25 Jahren waren es noch 80. Ein „OED3“ würde mindestens 40 Bände dick werden. Da ist die ständig erweiterte, alle drei Monate aktualisierte Onlineversion viel praktischer.

Kurioserweise verlangsamt die elektronische Erfassung das Tempo. Mitherausgeber Peter Gilliver sagte der „New York Times“, dass man heute „alles hören kann, was im Englischen in den vergangenen 500 Jahren geäußert wurde“. Das sei ohrenbetäubend. Die englische Sprache ist durch ihren Welterfolg und die technischen Möglichkeiten der Aufzeichnung einfach zu umfassend für ein Druckwerk. Ihre historische Zukunft liegt im Netz.

E-Mails an:norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2014)

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