Die Aufführung dauert 273 Sekunden oder 152 Stunden

Hunderte Jahre russischer Geschichte oder 100 Jahre George Tabori sind heutzutage auf der Bühne kürzer als ein „Tatort“ im TV.

Der Eindruck mag subjektiv sein, aber wir zeitgemäßen Kritiker des Gegengifts spüren ihn dennoch. In dieser Theatersaison sind sehr viele Stücke von berückender Kürze. Kaum habe ich mich zum Beispiel im Akademietheater hingesetzt und auf hundert Jahre George Tabori eingestimmt, schon ist der kurzweilige Abend fast schon wieder vorbei, inklusive Bonus-Track, Kirchner und Voss melancholisch bei der Erinnerungsarbeit zusehen zu dürfen.

Ähnliches passierte mir eben wieder bei den Wiener Festwochen: Hunderte Jahre russischer Geschichte waren versprochen. Gerade erst habe ich die zwei Schnitten verzehrt, die heuer eingangs jeden Abend auf jedem Platz liegen, schon ist er weg, der Zauber von „Tararabumbia“, nach nur 75 Minuten! (Wenigstens wird man zum Nachfeiern ins Künstlerhaus eingeladen.) Dichter habe ich nur einen kompletten „Ring“ in Erinnerung, den die Berliner Philharmoniker konzertant aufgeführt haben: 70 Minuten Wagner. Und alles drin. Da noch etwas Zeit blieb, spielte das Orchester als Zugabe den „Parsifal“ – in sieben Minuten.

Schlecht ist derartig Kompaktes nicht, vor allem deshalb, weil viele Zuseher durch jahrzehntelangen Konsum der „Tatort“-Krimis darauf getrimmt sind, exakt nach 90 Minuten die Toleranzgrenze zu erreichen.

Das mag jene erfahrenen Opern- und Theaterliebhaber entsetzen, die sich wohlig daran erinnern, wie Stein einst „Faust“ total von morgens bis weit nach Mitternacht spielen ließ – Teil I und II ungekürzt am Stück. Ähnlich erging es einmal den Liebhabern des „24-Stunden-Rings“ in Erl. Solche Wach-Schlaf-Ereignisse prägen.

Derart viel Theater verblasst aber, wenn man den längsten Spielfilm aller Zeiten betrachtet: „Cinématon“ von Courant dauert 152Stunden. Ein Stummfilm! 36 Jahre lang hat der französische Experimentalfilmer dafür gebraucht. Bondartschuks aparte russische Version von „Krieg und Frieden“ ist im Vergleich dazu ein Trailer.

Was aber wäre die optimale Länge einer Aufführung? Kommt darauf an. 4:33 Minuten hält Cage für genau richtig. Jede Sekunde mehr oder weniger ist ein Sakrileg. Der Minichmayr oder dem Brandauer könnte ich viele Stunden zuschauen und merkte nicht, wie die Zeit vergeht. Aber im Kinofilm gibt es für mich tatsächlich die optimale Zeiteinheit: 80Minuten. Prüfen Sie selbst. An allem, was darüber hinausgeht, sind eitle Regisseure und nachlässige Cutter schuld. Selbst Hollywood neigt zur Übertreibung.

E-Mails an:norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2014)

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