Die Sprachkünstler klopfen an. Sie wollen in deinen Kopf!

Zur „Hörspiel-Gala“ von Ö1 eine kurze Abhandlung über verlegte Bücher und Hosen sowie über die Kunst, die in der Lücke wächst.

Zum Wochenausklang habe ich geradezu körperlich erfahren, was das Wort „verlegen“ bedeutet. Erst suchte ich am Morgen meinen zweitbesten Anzug. Den mitternachtsblauen, zu dem ich selbst meine bunte Krawatte mit den Singvögel-Motiven anziehen kann. Denn er passt am besten zum Ambiente des Großen Sendesaals im Funkhaus, in dem ich heute einen kurzen Auftritt bei der Ö1-„Hörspiel-Gala“ gehabt haben werde, bei der ich wegen der durchwegs durchgeistigten und großteils sogar sympathischen Besucher immer ganz fröhlich gestimmt bin. Dort aber, wo der Anzug im Schrank hängen sollte, klaffte eine Lücke. Ich habe ihn voriges Jahr wohl in der Reinigung vergessen.

Das Verlegen verfolgte mich auch in der Bibliothek. Ich suchte nach ästhetischen Schriften des Prager Strukturalisten Jan Mukařovský. Aber dort, wo an sich seine Poetik stünde, zwischen Mukai Kyorai und Murasaki Shikibu, war nur reine Leere. Ausgeflogen, so wie Munro und Murakami! Da fühlte ich mich augenblicklich innerlich leer. Denn Mukařovskýs Poetik eignet sich hervorragend, um auch die Tugenden des gesprochenen Wortes fern aller Ablenkungen durch aufdringliche Bilder zu erklären. Wenn ich mich recht erinnere, behauptet er, dass es vor allem auch die Leerstellen sind, die ein ästhetisches Objekt interessant machen. Das Kunstwerk entsteht immer wieder neu im Kopf des Rezipienten. Diesen evolutionären Ansatz finde ich beflügelnd, denn so kann sich auch das werte Publikum zu den Kreativen zählen.

Besonders die Hörer! Leser und Leserinnen des Gegengiftes werden sicherlich wissen, was ich meine: Wer von der penetranten Multimedialität endgültig genug hat, von der Werbung mit ihren sirenenhaften Untertönen, von den Nachrichten mit ihrem Stakkato an Aktualität, von überwältigenden Blockbustern Hollywoods mit ihrer nervtötenden Wirkung, gar nicht zu reden vom Gebimmel und Getöne all der kleinen Maschinen, die uns in virtuelle soziale Netze locken wollen – wem es also wirklich reicht, der muss sich nur in eine stille Ecke setzen und ein Buch lesen, um zu verstehen, dass eine Leerstelle nicht leer bleibt, sondern Raum bietet für Fantasie.

Diesen Zauber löst auch das Hörspiel aus, wahrscheinlich in stärkstem Maße, auf einen Sinn fokussiert. Es ist Samstagnachmittag. Voll Erwartung zieht sich der Kunstfreund zurück und dreht das Radio auf. Ö1. Die übrige Menschheit mag sich um 14 Uhr zum Shopping-Finale in überfüllte Fußgängerzonen aufgemacht haben, bei uns herrscht jetzt höchste Konzentration. Augen zu! Die Sprachkünstler klopfen an. Sie wollen in deinen Kopf!

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2016)

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